„Müssen laut werden“
Wolfgang Obwexer, Präsident des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit, spricht angesichts der kommenden Landtagswahlen über die blinden Flecken in Südtirols Sozialpolitik.
Tageszeitung: Herr Obwexer, seit Jahren bemühen Sie sich um ein soziales Südtirol. Welche Probleme sollen zukünftig gezielt angegangen werden?
Wolfgang Obwexer: Da gibt es einige Punkte. Zum einen vertreten wir als Dachverband den Dritten Sektor, sprich die ehrenamtlichen Vereine. In diesem Zusammenhang fordern wir die Einrichtung eines Garantiefonds, der die finanziellen Risiken der ehrenamtlichen Verantwortungsträger abdeckt. Ein zweiter wichtiger Punkt ist der Fachkräftemangel im Sozialbereich. Es fehlt an allen Ecken und Kanten an qualifizierten Arbeitern und die Leidtragenden sind in erster Linie die Familien selbst. Wenn die sozialen Dienste ausfallen, fällt die Pflege von älteren Personen oder Menschen mit Beeinträchtigung auf die Angehörigen zurück. Deshalb ist es umso wichtiger, neue Ausbildungswege zu finanzieren, um junge Menschen oder all jene Personen, die sich beruflich umorientieren möchten, an Pflegeberufe heranzuführen und berufsbegleitende Ausbildungslehrgänge anzubieten. Außerdem fordern wir eine Aufwertung der Berufe im sozialen Bereich durch höhere Löhne.
Als Präsident des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit setzen Sie sich für die Schwächsten ein. Finden sie in der Politik genug Gehör?
Im sozialen Bereich gibt es viele Anliegen, die eine nachhaltige, vehemente und laute Stimme erfordern. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft und die Politik die sozialen Probleme erkennen und gemeinsam an Lösungen arbeiten. Daher braucht es auch Vertretungen auf politischer Ebene, um die Interessen des Sozialbereichs und des Dritten Sektors zu vertreten und auf die blinden Flecken, die von der Politik übersehen werden, hinzuweisen.
Ende Juli wurde der Landessozialplan 2030 offiziell vorgestellt. Wie zufrieden sind Sie mit dem Plan?
Man kann nie genug zufrieden sein, aber der Sozialplan ist ein wichtiger Meilenstein. Darin werden die wichtigsten Forderungen gestellt und die Schwerpunkte für die Weiterentwicklung des Südtiroler Sozialwesens festgelegt. Was jetzt noch fehlt ist die konkrete Umsetzung sowie ein verbindlicher Zeitplan, wann und in welcher Form die einzelnen Maßnahmen umgesetzt werden.
Wurde Ihren Wünschen und Forderungen bisher genügend entgegengekommen?
Ja, der Sozialplan wurde gemeinsam von den unterschiedlichen Interessensgruppen und dem Land erarbeitet. Es wurden also Möglichkeiten zur Mitsprache geschaffen. Nun gilt es aber dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen nicht nur auf Papier bleiben oder in der Schublade verschwinden, sondern dass sie auch zeitnah umgesetzt werden.
Inwiefern hat sich die Arbeit für soziale Tätigkeiten in den letzten Jahren erschwert?
Die größte Herausforderung der letzten Jahre war sicherlich die Corona-Pandemie. Diesbezüglich hat sich die Tätigkeit des Ehrenamtes immer wieder aufs Neue bewiesen. Nun sehen wir uns aber mit den Folgen konfrontiert, unter anderem was das Problem mit den Ressourcen betrifft, wie den Personalmangel. Hinzu kommt, dass wir uns in einem demografischen Wandel befinden. Aufgrund der alternden Bevölkerung wird die Pflege in den nächsten zehn bis 20 Jahren zunehmen. Daher ist es wichtig, rechtzeitig Lösungswege einzuschlagen und alternative Hilfestellungen zu bieten, damit auch die nächste Generation eine qualitative Pflege erfährt. Eine weitere Herausforderung stellt der bürokratische Aufwand im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung dar. Vor allem für kleine Vereine ist das eine große Belastung.
Bräuchte es mehr finanzielle Förderung von Seiten des Landes?
Ja, die Herausforderungen werden auch in Zukunft nicht abnehmen. Angesichts des demografischen Wandels braucht es auf jeden Fall mehr Investitionen im Sozialbereich, um die Betreuung für ältere Menschen, aber auch Menschen mit Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen sicherzustellen. Außerdem braucht es Wohneinrichtungen, betreute Arbeitsplätze, Inklusionsprojekte und vieles mehr. Ohne Aufstockung der Ressourcen geht das nicht, das ist ganz klar.
Die steigende Inflation stellt für viele Südtiroler Familien ein großes Problem dar. Welche Anstrengungen sollten unternommen werden, um etwas gegen die wachsende Armut in Südtirol zu unternehmen?
Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, das merkt man auch in Südtirol. Es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die sich das tägliche Leben nicht mehr leisten kann. Ein großes Thema stellt hier das leistbare Wohnen dar. Darüber hinaus braucht es für Menschen mit Beeinträchtigung und ältere Menschen gezielte Projekte, damit sie nicht in die Armut abrutschen und sich die Pflege leisten können.
Sie haben es gerade angesprochen: Wie sehen Sie die derzeitige Lage auf dem Wohnungsmarkt?
Sehr angespannt. Es gibt immer mehr Personen und Familien, die sich die teuren Mietwohnungen nicht leisten können. Das ist auch für den Fachkräftemangel nicht sehr förderlich, wenn man qualifizierte Personen aus anderen Regionen oder dem Ausland anstellt, sie sich die Wohnungen in Südtirol aber nicht leisten können oder erst gar keine finden. Es braucht dringend Interventionen, die den Mietmarkt wieder regulieren. Außerdem müssen die Löhne so weit angepasst werden, damit Familien mit ihrem Gehalt bis ans Monatsende kommen und nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Politik muss hier unbedingt gegensteuern.
Ein weiteres großes Thema ist die soziale Inklusion: Welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der Eingliederung beeinträchtigter Personen im Alltag?
Das ist ein sehr großes Spektrum. In erster Linie betrifft es aber junge Menschen mit Beeinträchtigung, die sich im Übergang zwischen Schule und Berufsleben befinden. Die gesetzliche Regelung wäre mit dem entsprechenden Landesgesetz eigentlich gegeben, aber die Bemühungen sind nicht überall ausreichend. Es gibt zwar einige Schulen, die die letzten zwei Schuljahre nach den Vorgaben der Durchführungsbestimmungen so gestalten, dass der Übergang gut gelingt. Aber einige Schulen haben das versäumt, dort braucht es noch Anstrengungen. Es ist wichtig, dass junge Menschen trotz Beeinträchtigung eine Perspektive haben, dass sie nicht nach Schulabschluss, nachdem sie viel in Kontakt mit anderen Schülern waren, in ein Loch fallen und für einige Zeit zuhause bleiben müssen, weil sie keine Möglichkeiten einer Arbeitsstelle haben. In diesem Zusammenhang ist auch Mobilität ein großes Thema, denn das ist eine der Grundvoraussetzungen für eine gute Inklusion. Um an meinen Arbeitsplatz zu gelangen oder wenn ich meine Freizeit gestalten will, muss ich mobil sein. Es gibt bereits erlassene Richtlinien im Bereich Arbeit und Wohnen, aber es braucht auch noch Richtlinien im Bereich Mobilität. Damit alle öffentlichen Verkehrsmittel auch für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen zugänglich sind, muss alles barrierefrei gestaltet werden. Es ist ein Skandal, dass das gerade bei Zügen und gar einigen Bahnhöfen immer noch nicht der Fall ist.
Welche Erwartungen haben Sie im Hinblick auf die kommenden Landtagswahlen im Herbst an die neue Landesregierung?
Der Dachverband hat ein Papier mit den wichtigsten Forderungen ausgearbeitet, unter anderem die Absicherung für ehrenamtliche Verantwortungsträger, die Bekämpfung des Fachkräftemangels, Maßnahmen zur Familienentlastung bei Pflege zu Hause, die Reform des Dritten Sektors sowie die gemeinsame Programmierung und Projektierung von sozialen Diensten. Darüber hinaus ist uns die territoriale Gesundheitsversorgung ein Anliegen, dass im Gesundheitsbereich essenzielle Dienste wohnortnah umgesetzt werden, damit sich nicht die gesamte Versorgung auf die Krankenhäuser konzentriert. Eine weitere Forderung des Dachverbandes ist die Erhaltung des öffentlichen Gesundheitswesens. Nicht zuletzt muss der Wohnungsmarkt in Südtirol wieder für alle zugänglich gemacht werden, was auch die Anpassung der Löhne beinhaltet. Vor den Wahlen werden wir die Politik mittels einer Pressekonferenz auf diese Forderungen aufmerksam machen. Es braucht ein wohlwollendes Miteinander der Politik, der öffentlichen Hand, der Ämter, der Vereine und der Einzelpersonen.
Interview: Sylvie Debelyak
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Kommentare (4)
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gulli
Weshalb wurden eigentlich die 800.000 Euro, welche der Staat zur Förderung von Kindern mit Autismus zur Verfügung gestellt hätte, nicht angenommen?
andreas
Durchaus verständlich seine Forderungen in seiner Position.
Er fordert mehr Personal und höhere Einkommen für die Pflege.
Er fordert höhere Löhne für die Bevölkerung.
Er fordert leistbare Pflege für Betroffene und Angehörige.
Vielleicht könnte er erklären, wie so etwas machbar wäre.
Leistbare Pflege ist z.B. ein Widerspruch zu höheren Löhnen in der Pflege.
gorgo
Es ist Aufgabe der Politik sich Gedanken zu machen wie die Ressourcen in diesem Bereich aufgestockt werden können, nicht des Herrn Obwexer. Der sich sehr sachlich artikuliert und auch einige Vorschläge im Bereich Pflege bringt.
Ich denke es gibt in diesem Land noch einiges Potenzial zur Umverteilung.
Du könntest inzwischen mal mit dem wohlwollenden Miteinander als Einzelperson anfangen. Immer nur ‚geht nicht‘ behaupten, wird uns in der Sache auch nicht weiterbringen.
andreas
Wie geschrieben, seine Forderungen sich durchaus berechtigt und auch nachvollziehbar, nur halt kaum oder gar nicht umsetzbar.
Ich kenne nicht die genaue Zahlen, dass aber z.B. ein Platz im Altersheim ca. 3.500 Euro kostet oder die Kosten für eine inländische oder ausländische Badante kenne ich.
Etwas fordern mit dem Wissen, dass es so nicht annähernd umsetzbar ist, halte ích für nicht wirklich zielführend.
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