Originelle Lesart von Mahlers „Neunter“
Das Gustav Mahler Jugendorchester unter dem tschechischen Dirigenten Jakub Hrusa interpretiert Mahlers „Neunte“ mit einem musikalischen Temperament, das in vielfacher Hinsicht kongenial zu Mahler ist.
von Hubert Stuppner
Max Brod hat einmal die Neunte Symphonie von Gustav Mahler als eine der vier tragenden Säulen der europäischen Kultur bezeichnet, nach Bachs „Mätthäus-Passion“, Beethovens „Neunter“ und Wagners „Tristan“, alles Werke der Extreme und zukunftsweisend für die Gattung selbst.
Nimmt man Mahlers „Neunte“ in Augenschein, so lassen sich unerhörte stilistische Brüche in der linearen Tradition der Gattung Symphonie sogar in jedem einzelnen der vier Sätze festmachen: im ersten, dem „Tristan’schen“ die Vorboten des Expressionismus Schönberg’scher Faktur, im zweiten eine Umdeutung des höfischen Menuetts zu einem dörflichen Ländler auf der Tenne, auf der heimlich auch der Leibhaftige mittanzt (man denke an den von Mahler abgeschauten ebenso diabolische Zweiten Satzes von Schostakovitsch’s Stalin zugedachter Fünfter Symphonie), in der Burleske eine noch dämonischere Transfiguration des Beethoven‘schen und Bruckner‘schen Scherzos, und im Vierten Satz eine Reminiszenz von Bachs Choralseligkeit, jedoch als Abgesang auf drei Jahrhunderte zum Weinen schöner Musik, kurz bevor in Europa mit dem Ersten Weltkrieg dieser schönen Musik die Lichter ausgingen.
Am letzten Freitag konnte man im Bozner Stadttheater diese Symphonie in einer denkwürdigen Interpretation mit dem Gustav Mahler Jugendorchester unter dem tschechischen Dirigenten Jakub Hrusa erleben. Dessen mitreißende Interpretation möchte ich mit dem Begriff „prägnante Prosodie“ charakterisieren, einem Begriff, der das Sprechende, Impulsive, ja Hände Ringende der Klangrede zum Ausdruck bringt. Mahlers Musik zeichnet sich nämlich selbst, gegenüber anderen klassischen und romantischen Partituren, durch eine idiomatische Deutlichkeit und durch eine sinnliche Physiognomie der Klänge und Themen aus. Daraus ergibt sich eine der sprachlichen Prosodie sehr ähnliche Deklamation.
Dieses Sprechende, alle Phrasen Verdeutlichende wurde durch Hrusa durch eine vehemente Klangregie noch überhöht und zu einem wahren Erlebnis. Sein musikalisches Temperament ist Mahler in vielfacher Hinsicht kongenial. Mahler, ein romantischer „Fahrender Geselle“, schrieb Musik, die ihm selbst wie aus dem Gesicht geschnitten glich und die sein neurastehenisch begabtes Naturell wiederspiegelt.
Für Hermann Bahr war Mahler hochgradig neurotisch: „Er war wie ein Wasserstrahl aus einem Rohr, ein Luftzug durch ein aufgestoßenes Fenster. Er trat nicht ein, er brach herein.!“ Der Neurotiker ist extremen Stimmungsschwankungen ausgesetzt, er fühlt sich in seiner Haut nie ganz wohl und stellt allerlei Sachen an. Doch liefern ihm, dem Gehetzten, die extremen Gefühlszustände originelle Ausdrücke und tiefe Gefühle.
So beginnt der erste Satz mit ruhigem Atmen, bäumt sich dann plötzlich auf, wird heftig, verdüstert die Stimmung und beginnt, eh man‘s erwartet, emphatisch an zu singen: Expressionismus ante litteram.
Die Dirigenten, die Mahler der Tradition des klassischen Schönklangs gefügig machen wollen, versuchen alle symphonischen Bosheiten zu glätten, nicht so Hrusa: er hebt sie hefig gestikulierend hervor, lässt den Schalk spielen und sympathisiert mit dem Zerrissenen. So verdeutlicht er dem Zuhörer den jähen Wechsel von Dur nach Moll, die kecken Zwischenrufe der Bläser, das derbe Meckern der tiefen Holzbläser, den Ekel vor der leere des Daseins in den gestopften Hörnen. Aber hoch oben in den langen Melodie-Kantilenen lässt Hrusa die Geigen Dialekt singen, dass einem Hören und Sehen vergeht. Melodien, wohlgemerkt, die bei Mahler immer Macken haben, sozusagen durchlöchert sind und die Male der Verletzungen offenbaren, die er erlitt oder sich selbst zugefügt hat.
Hrusas erstaunliche Allgegenwart fühlt sich in Mahlers orchestralem Wortschwall sichtlich wohl, und er versteht den böhmisch-mährischen Dialekt des Landsmanns, der auszog, gegenüber der verdorbenen Welt eine symphonische Gegenwelt aufzubauen. Aus den ausladenden Einsätzen, die Hrusa gab, verstand man, dass er diesen Dialekt versteht, der laut Adorno sogar eine absichtliche „Sabotage“ der Hochsprache darstellt: nämlich einen Dialekt, der die böhmisch-mährische Peripherie und die Verdinglichung durch das Ländliche als heimliche Distanzierung von der auftrumpfenden Akademie darstellt.
Wie Mahler nicht schönt, und nicht poliert, so Hrusa. Da wo die klassische Harmonie den kraftvollen Fortgang der Stufen leert, stellt Mahler die harmonischen Funktionen auf den Kopf, verformt sie chromatisch und gibt sie sozusagen der Lächerlichkeit preis. Hrusa scheint an diesem sarkastischen Kunstgriff Mahlers, Spaß zu haben, denn er betont ohne Scham, wie übrigens auch Janacek, durch Hervorhebung der widerborstigen Akzente die Fremdheit dieser Musik in der fortschrittlichen Welt, mehr noch: Er brüskiert die richtig betonte großdeutsche Musik mit den in der Partitur schalkhaft gesetzten falschen Akzenten, ganz im Sinne Adornos, der diese falschen Betonungen als stilbildend beschreibt: „Mahlers falscher Akzent schmeckt, so wie man in Österreich die Rieslingstrauben ‚schmeckert‘ nennt.“
So ähnlich war Hrusas Interpretation, der auf zahlreichen Manualen gleichzeitig das Orchester dirigierte, alles in allem eine ansprechende Humoreske. Aber vollends wuchs er über sich hinaus, als er in dem abschließenden Adagio, den Streichern die Seele aus dem Leibe zog und sie zu einem Reigen seliger Geister formte, die beim herzzerreißenden Schwanengesang Mahlers manchem Hörer die Tränen in die Augen trieben.
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