Rache an der Strecke
Beim Seiser-Alm-Halbmarathon am Sonntag wurde ein Teilnehmer von einem Zuschauer zu Boden gestoßen und getreten. Die Hintergründe eines bizarren Angriffs.
von Thomas Vikoler
Laufveranstaltungen gelten gemeinhin als friedlich, zu Zwischenfällen kommt es dort äußerst selten. Schon gar nicht mit Beteiligung von Zuschauern. Bei der 10. Ausgabe des Seiser-Alm-Halbmarathons am vergangenen Sonntag kam es zu einem tätlichen Angriff der bizarren Art. Er ereignete sich nach rund fünf Kilometern direkt an der Laufstrecke im Bereich einer Verpflegungsstation in der Nähe der Bergstation der Seilbahn St. Ulrich-Seiser Alm.
Ein Vorfall mit Vorgeschichte und sportrechtlichen Implikationen.
Das Opfer des Angriffs ist einer der 700 Teilnehmer des Halbmarathons, der nichtsahnend seinen Rhythmus lief. Bis sich ein Mann in Jeans plötzlich aus der Reihe der Zuschauer löste. „Er hat mich angegriffen, umgestoßen und ich bin auf dem Boden gefallen. Weiters hat er nach mir getreten und meine linke Wade getroffen. Er ist mir nachgelaufen und hat Drohungen ausgesprochen und gesagt, das sei erst der Anfang“.
So schildert das Opfer des Angriffs, Martin Sanin, den unangekündigten Zwischenfall während seines Laufs. „Ich habe mich in den Bereich der Bergstation begeben, wo Männer der Bergrettung standen. Ich fürchtete, dass er mich nochmal attackiert“.
Augenzeigen zufolge verschwand der Angreifer in der Bergstation der Bahn St. Ulrich-Seiser Alm und wurde nicht mehr gesehen.
Es war aber kein anonymer Angriff oder eine Impulshandlung, sondern eine gezielte Racheaktion. Martin Sanin kennt den Mann, der ihn umgestoßen und bedroht hat. Ein Amateur-Läufer aus dem Grödental, mit der er bereits in der Vergangenheit zu tun hatte.
Sanin hat inzwischen bei den Carabinieri Strafanzeige gegen den Angreifer erstattet: „Es gibt mehrere Augenzeugen“, betont er.
Nach dem Schockmoment an der Verpflegungsstation musste der Läufer erst einmal zu sich kommen und sich beruhigen. Schließlich entschied er, den Halbmarathon weiterzulaufen und mit einer weit höheren Zeit als beabsichtigt das Ziel in Compatsch zu erreichen. Körperlich überstand er die Attacke unversehrt. Aufgeben und die absolvierte Strecke zurückgehen, wäre, sagt Sanin zwei Tage später, mit einem Lachen auch keine Lösung gewesen.
Der tätliche Übergriff auf der Seiser Alm hat mit einem Ereignis von Anfang Mai 2021 zu tun. Martin Sanin, der Angegriffene, ist seit vielen Jahren Organisator des Meraner Halbmarathons. Die Ausgabe in jenem Jahr fand unter besonderen Voraussetzungen statt, der Landeshauptmann erlaubte die Veranstaltung mitten in der Corona-Pandemie unter zahlreichen Auflagen. Sanin, der Organisator, sprach damals von einem „Pilotprojekt“ für andere Laufveranstaltungen, um diese halbwegs sicher abzuwickeln. Höchstens 300 Läuferinnen und Läufer durften teilnehmen, die ersten 500 Meter der Strecke mussten mit Maske gelaufen werden. Zudem war ein negativer Coronatest vorzulegen – alternativ dazu gab es eine Testmöglichkeit am Start. Zuschauer entlang der Strecke waren keine zugelassen.
Bei der Überprüfung der von den Teilnehmern vorgelegten Tests durch die Organisatoren zeigte sich, dass zwei von ihnen offensichtlich gefälscht waren. Ein Abgleich mit den Daten des Sanitätsbetriebs lieferte einen Tag später den Beweis: Die beiden betreffenden Athleten hatten sich keinem Test unterzogen.
Das Meraner OK meldete den Vorfall dem italienischen Leichtathletikverband FIDAL. Dieser verhängte deswegen eine Sperre gegen die beiden Athleten. Sie gingen in Berufung, ohne Erfolg. Am 24. Jänner 2022 wurden sie rechtskräftig für drei Jahre gesperrt. Die beiden Läufer dürfen bis zum 26. Jänner 2025 kein FIDAL-Rennen bestreiten. Sie scheinen – neben Geh-Olympiasieger Alex Schwazer – in der offiziellen Gesperrten-Liste des Verbandes auf.
Bei einem von ihnen handelt es sich um jenen Mann, den Martin Sanin gegenüber den Carabinieri als den Angreifer von der Seiser Alm identifizierte.
Er konnte offenbar nicht verwinden, dass der OK-Chef des Meraner Halbmarathons die vorgelegten Corona-Tests genau untersuchen ließ und dabei eine Fälschung aufgedeckt wurde. Die Sperren sprach dann, wie gesagt, der Leichtathletikverband aus, sie lagen also nicht in der Entscheidungsgewalt des Veranstalters.
Genauso wenig hatten die Veranstalter des Seiser-Alm-Halbmarathons einen Einfluss auf die unliebsame Attacke am Sonntag auf der Laufstrecke. Doch wie es aussieht, sind auch im vermeintlich friedlichen Amateur-Laufsport die Ressentiments zuweilen sehr groß – und sie wirken lange nach.
Nach der Anzeige Sanins muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob sie ein Strafverfahren gegen den Angreifer einleitet. Ob der Vorfall auch sportrechtliche Folgen haben wird, wird sich ebenfalls zeigen.
Kommentare (14)
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