Zeit kann man nicht verlieren
Keiner hat sich so intensiv mit Zeit auseinandergesetzt wie der Künstler, Musiker und Komponist Albert Mayr. Anlässlich seines 80. Geburtstags widmete das Museion dem Sohn des von den Nazis zum Tode verurteilten und 2017 selig gesprochenen Josef Mayr-Nusser eine Ausstellung. Ein Gespräch über Zeit und warum man sie nicht verlieren kann.
Tageszeitung: Herr Mayr, wie geht es Ihnen?
Albert Mayr: Nicht gut, gar nicht gut. Extreme Schwäche und es wird immer schlimmer.
Sie haben sich als Künstler, Denker und Musiker intensiv mit dem Phänomen Zeit auseinandergesetzt. Wie erleben Sie derzeit Zeit?
Wenn man krank ist, erlebt und lebt man Zeit anders völlig anders als ein gesunder Mensch. Es ist auch eine Frage sozialer Konventionen und wie man sich darauf einstellt. Der Kranke darf mit Zeit anders umgehen als ein Gesunder. Für jemanden, der es gewohnt ist, viele Sachen rasch und gleichzeitig zu erledigen, ist die plötzliche Leere natürlich eine Herausforderung. Der freut sich nicht über die viele Zeit, sondern hat seine Probleme damit, dass ihm plötzlich Tage, Wochen oder gar Monate zur Verfügung stehen. Der Kranke hat die Möglichkeit, sich seinem Zeitgefühl hinzugeben ohne etwas zu versäumen. Das ist alles andere als einfach, weil wir es gewohnt sind, immer etwas zu tun zu haben und wenn wir nichts finden, erfinden wir etwas. Nützliche Mitglieder der Gesellschaft haben immer etwas zu tun. Aber es kann mitunter nützlicher sein, wenn man innehält und Zeit einfach mal vergehen lässt, ohne sie mit eingebildeten Verpflichtungen vollzupacken.
Innehalten ist für den modernen Menschen ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich kenne den Zwang, immer etwas zu tun zu haben, ich erlebe ihn ja auch an mir selber. Ich bin seit drei Jahren ziemlich krank und daher kaum leistungsfähig. Mehr als ein Viertel oder ein Fünftel von dem, was ich früher gemacht habe, schaffe ich nicht mehr. Dieses Wenige füge ich einigermaßen harmonisch zu einem Tagesablauf zusammen. Ein gesunder Mensch kann das ja nicht, weil er erstens zu viel zu tun hat und zweitens weil er gar keine Zeit hat über seine Zeitabläufe nachzudenken. Der Kranke hat einerseits mehr Zeit, andererseits kostet die Erledigung der wenigen Dinge auch mehr Anstrengung und sie kann mit Schmerzen verbunden sein. Krankheit bietet einem die Möglichkeit, sein Verhältnis zu Zeit zu überdenken und zu überprüfen. Die Routinen des gesunden Lebens mit Gewalt im kranken Leben weiterzuleben, sollte man vermeiden.
Schaffen Sie es noch zu schreiben und zu komponieren?
Mit der Kunst ist im Augenblick nicht viel los. Ich habe kaum Energien und künstlerische Arbeit ist anstrengend. Im Moment beschäftigen mich die zahlreichen unterschiedlichen Möglichkeiten, mit Raum und Zeit umzugehen, sei es im Alltag, sei es in der Kunst und dort von der Architektur bis zur Musik. Aktuell befasse ich mich stärker theoretisch als früher mit den Parametern Raum und Zeit und wie wir diese behandeln.
Was macht die Kategorie Zeit mit uns, wie leben wir Zeit und wie erleben wir sie – mit solchen Fragen hat ihr zwischen Musik und Kunst angesiedeltes Werk in den 1970er Jahren begonnen.
Ich habe immer versucht, das, was wir wissenschaftlich über Zeit wissen, in meine künstlerische Arbeit einzubeziehen, ohne es als einzige Wahrheit hinzustellen. Biologisch gesehen gibt es zwischen den Spezies ja sehr verschiedene Formen des Umgangs mit Zeit. Was für eine Spezies richtig ist, ist für eine andere nicht funktional. Es ging und geht immer darum, Abläufe bewusster wahrzunehmen und mitzuerleben.
Murray Schafer, der Begründer des World Soundscape Project, mit dem Sie bekannt waren, hat den Komponisten damals eindringlich nahegelegt, aus dem Musikbetrieb auszuscheren und sich stattdessen um die immer „versautere“ Klangumwelt zu kümmern.
Schafer hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir unsere natürliche Klangumwelt eigentlich kaum beachten. Ihm ging es darum, die einfachen Klangkomponenten des Lebens und ihre Bedeutung für das Zusammenleben stärker ins Auge zu fassen.
Sie haben das in dem Film „Von Zeiten und Leuten. Am Beispiel Sarntal“ 1984 versucht.
Der Film war der Versuch eines Städters, einen Zugang zu den Zeiten der Menschen im Tal zu finden. Ich wollte mit meinen Kategorien überprüfen, wo es eine Verbindung zwischen dem Zeitempfinden eines Stadtmenschen und eines Talbewohners gibt. Das Zeiterleben eines Bergbauern, so es das heute überhaupt noch gibt, ist natürlich ein anderes als das eines Stadtmenschens und es wäre eine Illusion zu glauben, dass ich sein Erleben einfach so zu meinem Erleben machen könnte. Zwischen den beiden ist die Kommunikation eher schwierig. Andererseits wäre es schön, wenn die Gesellschaft den verschiedenen Zeitkulturen ihren je eigenen Raum ließe. Dazu sollte der Film anregen.
Zeit ist Geld, heißt es. Ist Zeit zur kapitalistischen Ware geworden?
Natürlich. Aber seien wir ehrlich, irgendwie funktioniert es ja auch. Kapitalismus ist nicht nur Unterdrückung, er hat die Entwicklung gewisser menschlicher Fähigkeiten befördert. Wir sollten da nicht selbstgerecht sein. Es stimmt aber auch, dass der Kapitalismus einige Aspekte des Umgangs mit Zeit bevorzugt und andere kaum gelten lässt.
Zum Beispiel?
Fragen Sie jemanden, wie viel Zeit er in einer Woche verloren hat? Sie werden aus jeder Antwort heraushören können, dass das Verlieren von Zeit als schmerzlich empfunden wird. Der Verlust von Zeit wird als Niederlage erlebt. Es gibt zahllose Ratgeber zu der Frage, wie man das Verlieren von Zeit begrenzen oder ganz eliminieren kann. Der Tenor dieser Ratgeberliteratur lautet immer: Wie nutze ich Zeit in einer Weise, die mir etwas bringt und wie vermeide ich unproduktiven Umgang mit Zeit. Das ist alles ausschließlich funktional gedacht, eben genauso wie der Kapitalismus den funktionalen Menschen braucht. So lange man Menschen an der Zeitkette hat, kann man sie kontrollieren. Derjenige, der für eine bestimmte Arbeit zwei statt einer Stunde braucht, ist der Unterlegene. Die Zeit ist für den Kapitalismus also ein praktisches und unkompliziertes Instrument, um Menschen zu disziplinieren. Es kostet nicht viel und es ist existenziell. Die freie und selbstbestimmte Zeit hingegen gilt als außergewöhnliche Zeit, für die im alltäglichen Effizienzdenken wenig Platz ist.
Stellen Sie die Frage auch an sich selbst? Wie viel Zeit haben Sie in Ihrem Leben verloren?
Keine. Die Antwort hängt eben davon ab, was verloren Zeit für einen ist. Verlorene Zeit ist immer nur dann verloren, wenn man in einem Wertesystem lebt, in dem es die Kategorie verlorene Zeit gibt. Es gibt kein spontanes Empfinden für verlorene Zeit, das ist uns anerzogen worden. Es gibt so viele Möglichkeiten des Umgangs mit Zeit, dass Verlieren eigentlich ganz unwichtig ist.
Zeit kann man nicht verlieren, lautet Ihre Überzeugung.
Wir haben die Zeit nicht, wir sind in der Zeit.
Kranke und alte Menschen fragen sich oft, wie viel Zeit ihnen noch bleibt.
Das macht nicht viel Sinn.
„Time Design“, Zeit Design, ist zentral in Ihrem Denken und Ihrer Kunst. Was ist darunter zu verstehen?
Design ist zentral in unserem Leben. Wir können heute keine Zahnbürste mehr kaufen, die nicht ein Design-Produkt ist. Das gilt für praktisch alle Gegenstände unseres Lebens, außer für die Zeit. Für die Zeit gilt ausschließlich ein Aspekt: Effizienz. Ästhetische, künstlerische Gesichtspunkte der Zeitgestaltung spielen keine Rolle. Genau darum geht es in „Time Design“: um ästhetische Gestaltung der Zeit, damit wir sie über das Effizienzdenken hinaus auch als etwas Schönes erleben. Es geht um ein Akzeptieren von zeitlichen Gegebenheiten, einer Rhythmisierung des Lebens von der Geburt bis zum Tod.
Haben wir diese Fähigkeit verloren?
Schauen Sie sich den Buchmarkt zur Zeitgestaltung an: Da findet man ausschließlich Bücher zur zeitlichen Effizienzsteigerung. Das Ästhetische der Zeit wird nirgends berücksichtigt. Dabei könnten wir allmählich wissen, dass Effizienz nicht glücklich macht. Effizienz allein lässt unser Leben und unsere Beziehung zur Umwelt, sei es zur menschlichen, sei es zur tierischen, verarmen.
Ihre Kunst, Ihr Denken, Ihr Philosophieren ist im Kern der Versuch, Zeit wieder auf ästhetische Weise erlebbar zu machen.
Genau. Das ästhetische Erleben der Zeit steht auf der Skala der Wichtigkeit ganz weit unten, ich möchte, dass es wieder weiter nach oben rückt.
Ihre Kunst wird im weitesten Sinn der Fluxus-Bewegung zugerechnet, die Kunst und Leben vereinen wollte. Einverstanden?
Die Kunst war damals sehr bewegt, sehr lebendig. In Kunstkreisen dachte man, dass man das Leben durch die Kunst radikaler machen könnte. Insofern kann ich mich schon dazurechnen.
Sie haben sich auch politisch engagiert und mehrfach für die Kommunistische Partei kandidiert. War das auch ein künstlerische Aktion oder ging es Ihnen da um politische Teilnahme?
Das war sehr wohl politisch gemeint. Als Künstler kann man ja nicht aus seiner Haut heraus, und die extremen Linken Bewegungen schienen mir damals am ehesten auch die ästhetischen Aspekte des Lebens in ihrem Programm zu berücksichtigen.
Was hätte Ihr Vater, der 2017 selig gesprochene Josef Mayr-Nusser, dazu gesagt?
Das kann ich nicht sagen, weil ich ja nie die Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden, aber es ist nicht auszuschließen, dass er auch Kommunist geworden wäre.
Zeit scheint ein unendliches Thema für Sie zu sein.
Es ist ein riesiges Thema. Was mich beeindruckt und besorgt macht ist, wie Zeit in unserer Kultur zur Bevormundung herangezogen wird. Es wird einem ständig gesagt, dass man Zeit verliert, obwohl man Zeit gar nicht verlieren kann.
Wer über Zeit nachdenkt, wird unweigerlich zum Philosophen. Ist das so?
Kann sein, aber das ist ja nichts Schlechtes.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Der Komponist Albert Mayr wurde 1943 in Bozen geboren und lebt und arbeitet in Florenz. Nach seiner Ausbildung am Konservatorium in Bozen spezialisierte er sich im Fach Komposition am Conservatorio Cherubini in Florenz. Der Komponist Pietro Grossi war für ihn eine prägende Figur. Ein Stipendium führte Mayr von 1969-73 nach Kanada. Dort traf er die US-amerikanischen Komponisten Chrystal Wolff und Raymond Murray Schäfer. Letzterer war der Gründer des „World Soundscape Project“ (1971), an dem sich auch Mayr beteiligte. Von 1973 bis 1991 unterrichtete er als Professor für elektronische Musik am Konservatorium in Florenz.
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