„Mehr akute Fälle“
In den letzten zehn Jahren wurden mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran behandelt – vor allem die dringenden Aufnahmen sind in den letzten Jahren stark gestiegen.
Tageszeitung: Frau Primaria, die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran feiert ihr zehnjähriges Bestehen. Wie wichtig war es diesen Dienst für Kinder und Jugendliche aufzubauen?
Donatella Arcangeli (Primaria des Dienstes für Kinder- und Jugendpsychiatrie): Wir sind eine der wenigen Regionen in Italien, die eine eigene Abteilung für Kinder und Jugendliche hat. Dabei ist das ein wirklich wichtiger Dienst, weil die akute Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die eine psychische oder psychiatrische Störung haben, sehr wichtig ist – für die Jugendlichen selbst und deren Familien.
Ist die Behandlung von Kindern anders als jene von Erwachsenen?
Absolut. Kinder und Jugendliche befinden sich in einer Entwicklungsphase, das heißt, dass viele psychische und psychiatrische Problematiken, die im Jugendalter auftreten, gut behandelt und später verschwinden können – das heißt, dass sie dann als Erwachsene keine Probleme mehr haben. Zudem muss die Betreuung dieser Jugendlichen flexibler sein, sie brauchen einen Ort, wo sie sich wohlfühlen und mit anderen Jugendlichen Kontakt haben.
In den letzten Jahren ist der Bedarf nach psychischer Betreuung bei Kindern und Jugendlichen stark gestiegen. Ist die Pandemie dafür verantwortlich oder gibt es auch andere Gründe?
Bereits vor der Pandemie haben Fachleute beobachtet, dass die Jugendlichen unsicherer und empfindlicher waren. Nach der Pandemie ist das sicher noch schlimmer geworden: Wir sehen Jugendliche, die oft große Schwierigkeiten haben, Stress zu tolerieren oder Schulstress zu akzeptieren und das ist sicher eine Konsequenz des Lockdowns, aber auch eine Konsequenz der schnellen Veränderung unserer Gesellschaft. Die Nutzung von Internet, die Informationen, die man im Internet bekommt und die vielen TV-Serien konditionieren die Jugendlichen sehr stark und führen dazu, dass sie die virtuelle und die reale Welt vermischen. Es ist leichter in der virtuellen Welt zu leben als in der realen und das ist für die Jugendlichen mit großem Stress verbunden. Sie haben eine Lebensidee im Kopf, die nicht der Wahrheit entspricht.
Und diese Lebensidee können sie auch nicht so umsetzen, wie sie es vielleicht möchten…
Genau. Sie sind zudem in einem Alter, wo sie noch nicht die Reife haben einzuschätzen, was wirklich wichtig und wertvoll für die Zukunft ist.
Wie sieht es aktuell aus? Wie viele Jugendliche werden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt?
In zehn Jahren haben wir 1.071 Patienten in der Abteilung behandelt und insgesamt 2.259 Aufnahmen verzeichnet – das bedeutet, dass viele Patienten mehr als einmal aufgenommen werden mussten. 1.458 Patienten wurden in der Notaufnahme aufgenommen. Ebenfalls wichtig zu erwähnen ist, dass in den letzten Jahren die dringenden Aufnahmen stark gestiegen sind – wenn wir vor rund zehn Jahren noch 154 dringende Aufnahmen pro Jahr hatten, waren es letztes Jahr schon 304. Und wenn der Trend so weitergeht, wie in den letzten drei Monaten, werden wir am Ende des Jahres rund 350 dingende Aufnahmen haben – also eine sehr große Erhöhung des Bedarfs für akute Situationen.
Wie sieht eine akute Situation aus?
Das heißt, dass sich der Jugendliche innerlich so unwohl fühlt, dass er eine Erste Hilfe-Abteilung aufsucht und ein Facharzt dann eine Aufnahme anordnet, weil der Jugendliche psychisch zu instabil ist.
Sind das Jugendliche mit Suizidgedanken?
Oft sind es Jugendliche, die Suizidgedanken haben, aber auch Wutausbrüche oder schlimme depressive Verstimmungen, Panikattacken und selbstverletzendes Verhalten sind akute Situationen. Suizidgedanken, nicht Suizidversuche, haben in den letzten Jahren stark zugenommen.
Holen Eltern recht rasch Hilfe?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Bei akuten Fällen, wenn die Situation unerträglich ist, wird recht rasch Hilfe geholt. Uns passiert z.B. sehr oft, dass Jugendliche zu uns kommen, die wegen Kleinigkeiten ausrasten, beispielsweise, weil die Eltern gesagt haben, dass Schluss ist mit Internet. Bei nicht akuten Fällen, also allgemeinen täglichen Schwierigkeiten, hängt von der Familie ab, wie schnell Hilfe geholt wird. Wir sehen in unserem Dienst nur die Spitze der Problematiken.
Wir erleben derzeit eine Reihe von Krisen – zuerst die Pandemie, dann die hohe Inflation der Krieg in der Ukraine… Was machend diese Krisen mit der Psyche von Kindern und Jugendlichen?
Ich glaube, dass diese Krisen sich nicht speziell auf die Psyche der Jugendlichen auswirken. Aber die Veränderung unserer Gesellschaft, die man ganz klar beobachten kann, spielt sicher eine Rolle.
Was würde es brauchen, um diesem steigenden Bedarf auch in den kommenden Jahren gerecht werden zu können?
Den steigenden Bedarf haben wir im Griff. In Zukunft werden wir aber sicher eine postakute Versorgung brauchen. Wegen der hohen Anzahl an akuten Patienten können wir die Abteilung nicht für eine längere Zeit für andere Patienten nutzen. Aber wir sehen, dass bei vielen Patienten, wenn sie wieder in die Normalität zurückkehren, die Symptomatiken wieder auftreten und eine ambulante Betreuung nicht ausreicht. Deswegen wäre eine Struktur für eine postakute Betreuung sicher sehr sinnvoll, aber derzeit besteht keine Dringlichkeit.
Interview: Lisi Lang
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Kommentare (3)
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olle3xgscheid
Einfach nur traurig, das Ganze.
Und scheinbar ganz im Sinne des Staates.
Lassst doch min. 1 Elternteil zumindest 3 Jahre zu Hause!!! Nein , da müssen alle raus und mit dem Vorwand , geringe Pension usw., zu schufften für die Wirtschaft!!!
Kinderseelen bezahlen dadurch den hohen Preis!! Keine Eltern, keine Oma und Opas , da ist niemand mehr….
dn
Es wäre interessant gewesen, die Ursachen der gehäufte Fälle noch deutlicher anzusprechen, da Fr. Dr. Arcangeli sicherlich eine sehr kompetente Person ist.
vinschgermarille
Man kann Kindern und Jugendlichen auch einen Halt geben wenn man arbeitet.Das größte Problem ist doch,daß heutzutage schon die Erwachsenen ein Problem haben, wenn sie nicht überall dabei sein, sich nicht alles leisten können.Die Freizeit der Jüngsten ist nicht selten verplant,dabei ist doch schon die Schule allein so anstrengend….. Es muß immer etwas Neues geboten werden,sonst kommt Langeweile auf und das scheint ja das schlimmste zu sein was es gibt. Und der Einfluss der (sozialen )Medien nimmt überhand,man könnte ja was verpassen.Weniger ist mehr, in vielerlei Hinsicht.Konsum und Freizeitstress füllen keine innere Leere,sondern ein achtsamer Umgang, Zuwendung ,füreinander da sein , Verständnis.