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„Das Wertesystem ist bankrott“

Wie sozial ist Südtirol? Gastreferent auf der Landesversammlung des KVW war der Wirtschaftswissenschafter Gottfried Tappeiner.

Hoffnung und Zuversicht als Gegenmittel gegen Resignation und Angst: Die große Gemeinschaft des größten Sozialverbands Südtirols mit 28.000 Mitgliedern hat sich am Samstag zur 38. KVW Landesversammlung getroffen. Thema war die soziale Situation in Südtirol.

Gastreferent war Prof. Gottfried Tappeiner, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Innsbruck.

Auch in diesem Jahr fand die Landesversammlung des Katholischen Verbands der Werktätigen (KVW) mit einer live online-Übertragung statt. KVW Landesvorsitzender Werner Steiner begrüßte die Ehrengäste, allen voran Landeshauptmann Arno Kompatscher, Bezirksvertreter:innenaus allen Teilen des Landes und vor dem Bildschirm über 100 Vertreterinnen und Vertreter der Ortsgruppen begrüßen.  

Vorsitzender Werner Steiner stellte die Sozialbilanz 2022 vor. Soziale Sicherheit für Frieden und Demokratie und die fast 2.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen des KVW, die in den Landesgremien, Bezirksgremien und Ortsgruppengremien tätig sind, fungieren als Botschafter des Verbandes. Nicht immer wir es den Ehrenamtlichen leicht gemacht, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. „Ganz neu hinzugekommen sind die Regelungen zur Reform des Dritten Sektors. Begriffe wie RUNTS und staatliches Einheitsregister machen die Arbeit nicht gerade einfacher. Grundsätzlich sollten die Bestimmungen des Dritten Sektors die Arbeit der Ehrenamtlichen unterstützen, erleichtern und die Motivation für das Ehrenamt steigern.“, so Steiner.

Er appellierte an die Politik, jetzt wo sich wieder das Kandidatenkarusell für die im Herbst anstehenden Landtagswahlen drehe, nicht bloß Wahlkampfversprechungen zu machen, sondern sich wirklich für Gemeinwohl, Subsidiarität und ein soziales Südtirol einzusetzen.In unserer leistungsorientierten Gesellschaft ist es immer schwieriger mithalten zu können: Steuergerechtigkeit ist ebensoanzustreben, wie eine Erhöhung der Sozialleistungen für diejenigen die wirklich Unterstützung brauchen. Die Ausrichtung des Patronats ist seit 75 Jahren gleich geblieben, aber dafür braucht es eine längerfristige Zusicherung von finanziellen Mitteln und eine klare Positionierung der Politik.

Landeshauptmann Arno Kompatscher konnte dem Landesvorsitzenden und den Anwesenden im Saal diesbezüglich gleich eine konkrete Zusage geben. Auf regionaler Ebene wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die Patronate in Zukunft besser aufzustellen.

„Die Mittel für Gesundheit und Soziales sind aufgestockt worden, aber die galoppierende Inflation stellt uns ständig vor neue Herausforderungen“, so Kompatscher. Er stellte in den nächsten Wochen ergebnisoffenen Verhandlungen mit den Sozialpartnern in Aussicht und mahnte auch den privaten Sektoren mit den Löhnen nachzuziehen um mit einer „territorialen Formel“ Antworten zu geben, damit die Arbeitnehmer:innen mit ihrem Gehalt auskommen und dementsprechend weniger Transferleistungen ausbezahlt werden müssen. Ohne soziale Nachhaltigkeit, ist auch kein Vorankommen bei ökologischen und ökonomischen Fragen möglich. Er dankte allen KVW Ehrenamtlichen für ihren Einsatz durch welchen sie Gemeinschaft stiften.

Professor Gottfried Tappeiner hielt den Hauptvortrag der Landesversammlung zum Thema „ Die soziale Situation in Südtirol“ und begann sein Referat mit einer Auflistung positiver Punkte. Es wird viel getan: ohne die Sozialtransfers wäre die Armutsgefährdung nicht bei 17% sondern bei fast 23%, es gibt 13.000 Sozialwohnungen, eine Kostenobergrenze von 1.800 € in der Heimpflege, relativ gerechter Zugang zur Bildung, Unterstützungsleistungen wie beispielsweise das Pflegegeld. Was noch ausbaufähig ist, ist hingegen der Zugang zu all diesen Leistungen. Die Anträge stellen viele Menschen vor große Hürden und das nicht nur jene die am Rande der Gesellschaft stehen. Der von der Wirtschaft oft propagierte Fachkräftemangel sei im Verhältnis zur in Italien vorherrschenden Jugendarbeitslosigkeit von 30% fast schon ein Luxusproblem.

„Der KVW macht alles für die Schwachen in der Gesellschaft, was sonst niemand so gut kann wie er“, lobte Gastreferent Gottfried Tappeiner. Gleichzeitig warnte er aber auch davor sich zu verzetteln. „Es braucht eine Konzentration auf Kernaufgaben und Kernkompetenzen.“ Vor 30 Jahren waren die Aufgaben des KVW noch essentieller für die Bevölkerung: ohne dessen Dienstleistungen hätten viel Südtiroler gar keine Rente erhalten. Professor Tappeiner stelle auch gleichzeitig eine Hypothese für die Zukunft auf. Größte Stärke des KVW sind die Freiwilligen, die seien das Netz. Damit dies aber auch funktioniere, müssten die Freiwilligen sehr unterschiedlich sein: Männer und Frauen, alt und jung, Hilfsarbeiter:innen und Akademiker:innen, Menschen mit Migrationshintergrund…

Und man dürfe keine Scheu haben „unangenehme“ Gruppen anzusprechen und proaktiv auf die Menschen zuzugehen.

Anschließend stellte KVW Geschäftsführer Werner Atz die Bilanz vor und gab einen Überblick auf die Tätigkeiten des Verbands im vergangenen Jahr vor und nannte beeindruckende Zahlen. Das Patronat KVW Acli hat im vergangenen Jahr 60.564 Aktenvorgänge bewältigt, dabei sind unzählige Mails, Telefonate und persönliche Beratungen gar nicht mitgezählt. Die KVW Service hingegen erstellte landesweit 32.000 Steuererklärungen, 15.300 EEVE Erklärungen und 12.924 ISEE Erklärungen. Auch die Bildung legte im vergangen Jahr wieder massiv zu: 1.190 Veranstaltungen sprechen eine klare Sprache.

Der geistliche Assistent Karl Brunner wählte für sein Schlusswort ein paar Gedanken zur Nachhaltigkeit.

„Das aktuelle Wertesystem ist bankrott! Es läuft einiges falsch, wenn wir ständig alles nur aus der Wirtschaftsperspektive betrachten und dem alles andere unterordnen. Mit welchen Werten justieren wir nach? Was ist wesentlich?“ so Brunner.Familienpolitik sei derzeit nur Thema, weil die Wirtschaft nach Fachkräften suche und man jetzt erst erkannt habe, dass auch die Familienpolitik darauf maßgeblichen Einfluss habe. Sozialpartner und insbesondere der KVW habe schon seit Jahren darauf aufmerksam gemacht. Für den KVW soll „Niemanden zurücklassen ein Leitmotiv sein. Als Beispiel nannte der geistliche Assistent des KVW auch die derzeit in den auf Bezirksebene angebotenen Autorenlesungen von Veronika Oberbichler „Wir brechen das Schweigen“ zum Thema sexueller Missbrauch. Der Verband müsse auchzukünftig kritische Themen angehen und in Familien-, Dorf- und Gesellschaftsstrukturen aufbrechen um das in Vergangenheit geschehene Unrecht aufzuarbeiten.

Die Landesversammlung schloss er mit dem Dank, dass der KVW auch mit seinen immerhin 75 Jahren immer noch eine gesellschaftliche Mitgestaltung erlaubt.

 

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