Die Zukunft des Jazz
Das 41. Südtirol Jazzfestival unter der neuen künstlerischen Leitung von Stefan Festini Cucco, Max von Pretz und Roberto Tubaro erkundet die Zukunft des Jazz.
Jazz fließt – und dieser Strom überwindet Wasserfälle und Sandbänke, bildet Strudel und ist trotzdem nicht aufzuhalten. Seit der Entstehung des fröhlichen und leichtfüßigen Dixieland nach dem Ersten Weltkrieg gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zeit, in der Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker leben und dem Stil, den diese auf ihren Instrumenten spielen. Vom 30. Juni bis zum 9. Juli zeigt das Südtirol Jazzfestival in 55 Konzerten, dass sich daran bis heute nichts geändert hat – und folgt am liebsten einer Musik, die das Flussbett gräbt, in dem der große Strom später fließen wird. Mainstream? Nein danke! Unter der neuen künstlerischen Leitung von Stefan Festini Cucco, Max von Pretz und Roberto Tubaro wird die in den vergangenen Jahren vorgenommene kuratorischen Positionierung weiterentwickelt, mit unorthodoxen Spielplätzen und einem innovativen und stilistisch entgrenzten Sound.
Das „Basislager“ des Festivals
Das „Basislager“ des Festivals ist nach wie vor der Kapuzinerpark in Bozen. Dazu kommen mehr als 30 attraktive Locations im ganzen Land. Eingeladen wurden Bands und Solisten aus der jungen und experimentellen europäischen Szene, die Pop, Rock, Punk, Hip-Hop, Noise oder Folk, die Moderne des 20. Jahrhunderts und auch zeitgenössische Kompositionsstile in ihre Musik integrieren. Routine? Nein, danke! Das Südtirol Jazzfestival bevorzugt Abenteuer und stellt dies auch durch eine fliegende Insel in der diesjährigen Grafik dar. Von Musik angetrieben, ermöglicht diese Insel zwischen den Wolken neue Klänge und Töne zu entdecken und in eine surreale Landschaft einzutauchen.
2023 besucht das Festival europäische Großstädte, die auch Jazzzentren sind. In Amsterdam ist das Konservatorium – an dem der frühere Artist in Residence Reinier Baas als Gitarrenlehrer unterrichtet – ein „Brutkasten“ der jungen Szene. Das Quintett der in der niederländischen Metropole lebenden koreanischen Drummerin Sun-Mi Hong verbindet Eigenkompositionen mit Ausflügen in unerforschte Bereiche der improvisierten Musik. Der Däne Teis Semey gehört ebenfalls zu einer Generation, die heute den Sound von Amsterdam prägt. Mit seiner Band mixt er Punk, Free Jazz und Folkmusik aus Skandinavien zu einem scharfen Jazz-Cocktail, der tanzbar ist und zugleich lyrisch-kontemplativ klingt.
Im kulturellen Melting Pot Berlin beschwört das Trio Bobby Rausch an der Schnittstelle zwischen Jazz und Hip-Hop die urbane Nacht und wendet sich an alle, die genug von Kompromissen haben. Mit improvisatorischer Freizügigkeit und der Synthese von akustischen Instrumenten und elektronischen Klangwelten erzeugt die junge Berliner Band Sinularia die Beatmusik des dritten Jahrtausends und wenn Pianistin und Sängerin KID BE KID die schwarzen und weißen Tasten bearbeitet, werden altbekannte Genregrenzen spielerisch-virtuos aufgelöst. Hier gibt es Jazz-Piano, funky R&B-Grooves, clubtaugliche Sci-Fi-Synth-Flächen,Electronic-Patterns und on top: ihren expressiven Soul-Gesang.
Wer ausgefallene Sounds sucht, sollte sich unbedingt in französischen Clubs umhören und natürlich ist diese exzentrische und innovative Szene auch in Südtirol vertreten. Das Trio des Akkordeonisten Noé Clerc kombiniert armenischen Folk, experimentellen Gegenwartsjazz und die klassische Moderne aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die Band La Litanie des Cimes produziert beim Poschhausstollen in Ridnaun den meditativen Soundtrack eines apokalyptischen Katastrophenfilms, Mit seinem Punk-Jazz-Sound überschreitet das mit Schlagzeug, Harfe und Flöte besetzte Trio Nout unbekümmert alle Schranken und der in der Klassik und im Gypsy-Jazz vielfach ausgezeichnete Gitarrist Antoine Boyer tritt unter anderem in der Brennerei Roner in Tramin mit der koreanischen Mundharmonika-Virtuosin Yeore Kim auf.
Jazz kennt keine Grenzen: Auch in seiner 41. Ausgabe aktiviert das Südtirol Jazzfestival ein dichtes europäisches Netzwerk, das in den vergangenen Jahren gespannt wurde. Der in Santander geborene Flötist und Saxophonist Juan Saiz orientiert sich an avantgardistischen Strömungen, am musikalischen Impressionismus und an der freien Improvisation. Mit dem vom norwegischen Drummer Gard Nilssen angeführten Acoustic Unity gastiert ein nordeuropäisches Spitzenensemble in Südtirol. Das Trio der polnischen Pianistin Joanna Duda mischt Ambient- und Minimal-Music, ein Prise Barock und etwas Romantik, Naturgeräusche und synthetische Klänge zu einem dichten sphärischen Sound und die im norwegischen Trondheim verortete Band LAV SOL verarbeitet elektronische Musik, Hip-Hop und Rock und lässt grafischen Partituren, die harmonische Strukturen abbilden mit Live-Musik kommunizieren.
In der Nacht wird der Jazz erst richtig wach.
Die Late-Night-Konzerte im Batzen Sudwerk in Bozen dehnen – als „schräger“ Abschluss des jeweiligen Tagesprogramms – die Grenzen des Gegenwartsjazz ins Unbekannte aus. Die sieben „Nachtstücke“ starten mit dem bretonischen Schlagzeuger Sébastien Brun, der sich in seinem Soloprojekt „Ar Ker“ zwischen Schamanismus und Electronics bewegt. Das italienische Trio t „spielt“ mit Robotern aus der eigenen Werkstatt und hinterfragt die Wahrnehmung von Zeit, die Wiener Band Kry erschließt neue Hör-Räume, das Trio Edi Nulz zelebriert einen „räudigen Kammerpunkjazz“, die belgische Band Don Kapot stellt mit dem Pianisten Fulco Otterwanger eine mit viel Improvisationsarbeit kreierte Jazz-Suite vor und ein von der estnischen Klavierspielerin Kirke Karja angeführtes Trio lässt sich vom Horrorkino der Stummfilmzeit und Maschinenschrott inspirieren.
Der österreichische Bassist Lukas Kanzelbinder gastiert im Sudwerk mit zwei exklusiven Projekten – einer neuen Band mit der Drummerin Sun-Mi Hong und der iranischen Klarinettistin Mona Riahi und einem Event, in dem Musik physische Erfahrung wird. Kranzelbinder wird mit der Flötistin Delphine Joussein, dem Saxophonisten Johannes Schleiermacher und dem Schlagzeuger Julian Sartorius in diesem Raum, der nur zu vorgegebenen Zeiten betreten oder verlassen werden kann, fünf Stunden ununterbrochen spielen und das Publikum kann dieses Jazz-Ritual tanzend oder zuhörend genießen.
Neues Hören. Mit Fernsicht
Zahlreiche Konzerte finden an Standorten statt, die eigentlich gar keine Konzerträume sind. So begleiten die österreichischen Musiker Siegmar Brecher(Klarinette), Lorenz Raab (Trompete) und Valentin Schuster (Schlagzeug) eine Jazzwanderung, die in Wolkenstein von der Gardenacia-Hütte bis zur Silvesterkapelle im Langental führt. Das italienische Trio Fat Honey verbindet an mehreren Locations den aufmüpfigen Poetry Slam des Hip-Hop mit Funk und Jazz und das britisch-koreanische Duo in: 人 bespielt eine alte Bunkeranlage. In einem Solo-Konzert präsentiert die Cellistin Mabe Fratti aus Guatemala im Garten des Parkhotels Holzner in Oberbozen experimentelle Eigenkompositionen und die junge deutsche Band Stax stellt sich am Trejer See am Speikboden vor.
Improvisieren statt marschieren: Unter dem Titel „Fortjazz“ führen Dan Kinzelman(Saxofon), Glauco Benedetti (Tuba) und Filippo Vignato (Tuba) das Publikum durch die Gänge, Gewölbe und Kasematten der Franzensfeste. Ein „Labyrinth aus Stein“ wird zu einer Konzertbühne für swingenden Gegenwartsjazz– ein Kontrapunkt zur steifen Militärmusik, die dort früher zu hören war.
Der Konzertkalender mit Terminen, Locations und Line-ups ist online abrufbar: www.suedtiroljazzfestival.com
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