Das Blutbad
von Artur Oberhofer
Cuno Tarfusser gibt sich zugeknöpft: „Ich mache keine Aussage, auch aus Respekt vor den Institutionen, die in diesem Fall entscheiden müssen.“
Der ehemalige ICC-Richter und Bozner Oberstaatsanwalt hat einen der spektakulärsten Fälle der jüngeren italienischen Kriminalgeschichte in gewissem Sinne neu aufgerollt.
Es geht um die sogenannte „Strage di Erba“, also um das Massaker von Erba. Cuno Tarfusser ist nach dem Studium der neuen Erkenntnisse zu diesem Kriminalfall zu der Überzeugung gelangt, dass zwei Personen unschuldig im Gefängnis sitzen könnten.
Cuno Tarfusser hat vor wenigen Tagen seinen 58 Seiten starken Antrag auf Wiederaufnahme des Schwurgerichtsprozesses hinterlegt. Ob dieser Antrag an die territorial zuständige Generalstaatsanwaltschaft nach Brescia übermittelt wird, entscheiden Tarfussers unmittelbare Vorgesetzte, nämlich die Mailänder Generalstaatsanwältin Alessandra Nanni und deren erste Stellvertreterin Lucilla Tontodonati. Laut „Corriere della Sera“ seien Nanni und Tontodonati über Tarfussers Initiative nicht erfreut. Innerhalb von 30 Tagen wollen die beiden leitenden Staatsanwältinnen eine Entscheidung treffen.
Das Massaker von Erba war, wie gesagt, einer der Aufsehen erregendsten Chronikfälle der letzten Jahrzehnte in Italien.
Die Tat
Am Abend des 11. Dezember 2006 wird die Feuerwehr in dem Weiler Erba am Comer See zu einem Hausbrand gerufen. In einer der ausgebrannten Wohnungen werden drei Leichen gefunden: Raffaela Castagna (30), ihr zweijähriger Sohn Youssef Marzouk sowie ihre Mutter Paola Galli (60) wurden mit Brecheisen-Schlägen und unzähligen Messerstichen ermordet. Die 55jährigeNachbarin Valeria Cherubini stirbt wenig später im Krankenhaus, während ihr Mann Mario Frigerio (65), der ebenfalls mit einer Schnittwunde am Hals aufgefunden wird, als einziger schwerverletzt die Tat überlebt.
Die Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf den Ehemann von Raffaela Castagna, Azouz Marzouk, der wegen Drogenhandels vorbestraft ist und erst aus dem Gefängnis entlassen worden war. Doch Marzouk hat ein hieb- und stichfestes Alibi: Er befindet sich zum Zeitpunkt der Tat in Tunesien bei seiner Familie.
Ins Fadenkreuz der Ermittler geraten in der Folge die Nachbarn: Olindo Romano (heute 60) und Rosa Bazzi (heute 55), die mit den Opfern in einen Gerichtsstreit verwickelt waren und in der Vergangenheit bereits tätliche Auseinandersetzungen hatten.
Der Verdacht fällt auch deswegen auf das Ehepaar Romano-Bazzi, weilbeide nach dem Massaker leichte Verletzungen aufweisen – der Mann einen Bluterguss an der Hand und am Unterarm, sie eine blutende Verletzung an einem Finger. Und weil sie sich in den Augen der damaligen Ermittler verdächtig verhalten. So legen die Eheleute den Fahndern ungebeten den Kassazettel eines McDonald’s-Restaurants vor, der belegen soll, dass sie zum Zeitpunkt der Tat nicht vor Ort waren.
Die Ermittler überwachen die Telefone der beiden Verdächtigen. Den Umstand, dass Olindo Romano und Rosa Bazzi im Zuge des Lauschangriffes nie über das Massaker sprechen, bewerten die Fahnder als Indiz gegen das Paar.
Die Blutspur
15 Tage nach dem Massaker von Erba unterziehen die Fahnder den Wagen der beiden Hauptverdächtigen einer kriminaltechnischen Untersuchung.
Und siehe da: Am Abend des 26. Dezember, gegen 23.00 Uhr, entdecken die Spurentechniker plötzlich im Bereich der Fahrertür eine Blutanhaftung, die einem der Opfer, Raffaella Castagna, zugeordnet werden kann.
Diese eine Blutspur wird zur Königin aller Indizien.
Und genau dies ist einer der Hauptpunkte in Cuno Tarfussers Neubewertung des Falles: Der Mailänder Generalstaatsanwalt gibt zu bedenken, dass nur diese eine Blutspur entdeckt werden konnte, noch dazu erst 15 Tage nach der Tat. Der Wagen hatte in diesen zwei Wochen dem Ehepaar Romano zur freien Verfügung gestanden, also hätten die beiden genügend Zeit gehabt, diese Spur zu beseitigen. Mehr noch: Cuno Tarfusser gibt zu bedenken, dass in der Wohnung des Ehepaares Romano keine einzige Blutspur entdeckt werden konnte., was bei einem Blutbad wie jenem in Erba sehr eigenartig anmutet.
Am 8. Jänner 2017 werden die Eheleute in Untersuchungshaft genommen. Zwei Tage später gestehen sowohl Olindo Romano als auch Rosa Bazzi in getrennten Verhören die Tat. Später widerrufen sie die Geständnisse und behaupten, sie seien von den Ermittlern unter Druck gesetzt worden bzw. man habe ihnen im Falle eines Geständnisses die Überstellung in den Hausarrest versprochen.
Kurz darauf belastet auch der einzige Überlebende und Augenzeuge Mario Frigerio die Eheleute schwer. Frigerio, die zunächst angegeben hatte, dass der Täter eine olivfarbene Haut hatte, bezichtigt plötzlich Olindo Romano und dessen Ehefrau der Tat.
Aus den Akten soll hervorgehen, dass Frigerio, der inzwischen verstorben ist, zu seiner Aussage „hingeführt“ wurde, indem man ihm sinngemäß sagte: Man wisse jetzt, dass Olindo der Täter sei, er habe die Tat ja auch gestanden, er, der im Halbkoma liegende Frigerio, solle versuchen, seine Erinnerungen zu ordnen. Was dann auch geschieht, und zwar ganz im Sinne der damaligen Ermittler, die der entsetzten Öffentlichkeit so schnell wie möglich einen Täter liefern wollen.
Obwohl sie ihre Geständnisse widerrufen, werden Olindo Romano und Rosa Bazzi Ende November 2008 in erster Instanz zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Im Berufungsverfahren und später in der Kassation wird das Urteil bestätigt. Olindo Romano und Rosa Bazzi sitzen seit 17 Jahren im Gefängnis.
Die Verteidiger des Ehepaares haben in den vergangenen Jahren – auch unter Einsatz von neuen kriminalwissenschaftlichen Technikern – neue Erkenntnisse sammeln können, die den stellvertretenden Generalstaatsanwalt von Mailand, Cuno Tarfusser, nun veranlasst haben, eine Wiederaufnahme des Schwurgerichtsprozesses zu beantragen. Tarfusser sagt nur: „Ich habe jedes Wort abgewogen und stehe hundertprozentig zu dem, was ich auf diesen 58 Seiten geschrieben habe.“ Die Beweissituation stelle sich heute aufgrund von neuen Erkenntnissen anders dar als damals. Die Entscheidung, ob es zu einer Neuauflage des Prozesses zum Massaker von Erbe kommt, liege nicht mehr bei ihm, so Tarfusser. Er habe seine Entscheidung „mit intellektueller Redlichkeit“ und aufgrund seiner beruflichen Erfahrung getroffen, so der ehemalige Bozner Chefstaatsanwalt.
Kurios: Sollten Tarfussers Vorgesetzte den Wiederaufnahmeantrag an das zuständige Oberlandesgericht nach Brescia weiterleiten, würde der Fall auf dem Tisch von Guido Rispoli landen, der Generalstaatsanwalt von Brescia ist.
Cuno Tarfusser ist damit nur mehr Zaungast. „Meine Aufgabe“, so sagt er, „ist es nicht anzuklagen, sondern die Wahrheit zu suchen.“
Das, und nichts anderes, habe er getan.
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Kommentare (2)
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pingoballino1955
Ich trau ihm schon zu,dass er da “ Gas“ gibt,ob mit Recht,oder nicht,werden die Gerichte entscheiden!
prof
Nachdem ich den Fall schon damals sei es auf “ Chi la visto“ und anderen TV Sendern mitverfolgt habe,könnte es durchaus sein,daß von den Ermittlern wie auch am Freitag 21. April 2023 auf Sender Rete 4 unter Quarto Grado gezeigt wurde, einige Fehler gemacht wurden.Übrigens,wer will kann Freitag 28. April auf den gleichen Sender Neues erfahren.