„Rückstau an Aggressivität“
Der Fall Luise in Deutschland und die jüngsten Fälle von Jugendgewalt schockieren: Der bekannte Gerichtspsychiater Reinhard Haller analysiert die Ursachen von Verrohung, Empathieverlust und Mobbing.
Tageszeitung: Herr Professor Haller, in den letzten Wochen gab es immer wieder Berichte über Fälle von Jugendgewalt in Südtirol, auch schwerwiegende Fälle im deutschsprachigen Ausland wie der Mordfall Luise haben Aufhorchen lassen. Verroht die Jugend zunehmend?
Reinhard Haller: Ich glaube, das kann man so direkt nicht sagen. Tatsache ist aber, dass die Kriminalität generell in der Jugend, in der Zeit des Umbruchs, also der Pubertät beginnt und diese Pubertätsgrenze immer weiter nach unten rutscht. Die Menschen kommen heute früher in dieses kritische Stadium hinein und deswegen verschiebt sich auch das Kriminalverhalten etwas nach unten.
Bei sehr schwerwiegenden Fallen wird gerne auf Einzelfälle verwiesen, kann man aber dennoch feststellen, dass sich die Art und die Formen der Gewalt verändert haben?
Dass es generell nur Einzelfälle sind, glaube ich nicht. Ich glaube schon, dass die Kriminalität, was das Alter betrifft, einen Schub nach unten erlebt – und deswegen kommt ja auch immer wieder die Frage auf, ob man dem strafrechtlich Rechnung tragen soll, indem die Strafmündigkeit, die jetzt in den meisten Ländern bei 14 Jahren liegt, herabgesetzt wird. Warum es zu dieser zunehmenden Gewalt kommt, hat zum einen damit zu tun, dass die Möglichkeiten des Umgangs mit der Aggressivität nicht mehr so gegeben sind wie früher. Von jungen Menschen hat man früher beispielsweise viel mehr körperliche Betätigung verlangt, was in der modernen Welt nicht mehr so gegeben ist und zu einem Rückstau an Aggressivität führt, der sich manchmal in Gewalttaten entlädt. Der zweite Punkt sind aggressionsbegünstigende Verhaltensweisen, die schon früher übernommen werden – beim Alkohol- und Drogenmissbrauch sinkt beispielsweise ebenfalls die Altersgrenze. Und ein gewisses Problem ist auch der Umgang mit der Liebesbedürftigkeit und Kränkbarkeit bei jungen Menschen.
Wie meinen Sie das?
Es geht darum, nach außen nicht zu zeigen, dass man verletzlich ist. Man verwendet immer das Wort „cool“ oder „megacool“, man muss abgebrüht sein, gleichzeitig aber wird übersehen, dass hinter dieser Maske der Coolness kränkbare und liebesbedürftige Wesen stecken. Bei so großen Gewalttaten wie diesem Fall Luise in Deutschland, steckt eine ähnliche Psychodynamik dahinter wie bei Schulamokläufern, die nach außen hin relativ unauffällig waren, innerlich aber sehr kränkbar und verletzlich sind und die dann aus geringen Motiven heraus zu dieser tödlichen Rache schreiten. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man hier nicht immer nur nach den großen Motiven sucht, die nicht da sind, sondern es sind diese vielen kleinen Stiche, die Verletzlichkeit bedeuten und auf das innerste Ich abzielen, auf diese Angst nicht geliebt und wertgeschätzt zu werden, und aus diesen vielen kleinen Motiven heraus kommt es dann oft zu diesen gewalttätigen Verhaltensweisen.
Hat Sie persönlich dieser Fall der zwölfjährigen Luise, die von einer zwölf- und eine 13-Jährigen erstochen wurde, schockiert?
Natürlich, das ist grauenhaft und in dieser schrecklichen Einzigartigkeit denke ich die Spitze des Eisbergs über das was letztlich doch in der heutigen Generation auch vorgeht.
Warum werden Kinder zu Mördern?
Warum ein Mensch zum Mörder wird – und Sie verwenden diesen Ausdruck hier richtig, weil es in diesem Fall um einen Mord, also um ein geplantes Tötungsdelikt gegangen ist und nicht um ein affektives oder situativ bedingtes – hat immer viele Ursachen. Man muss sich hüten, dass man immer nach den großen Motiven und Ursachen, nach der einzigartigen Ursache sucht, denn die gibt es bei einem Mord nicht, sondern es ist immer ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren.
Neben Schlägen und Tritten sind heute oft auch Messer mit im Spiel. Ist hier die Hemmschwelle gesunken?
Ich glaube schon, dass diesbezüglich die Hemmschwelle gesunken ist und diese tätliche Aggression auch mit einem gewissen Empathiemangel und einer erhöhten Kränkbarkeit, die meiner Meinung nach eine zentrale Rolle spielt, zusammenhängt. Die jungen Menschen wollen nicht, dass man sie als sehr verletzbare und kränkbare Wesen erlebt und dadurch staut sich etwas zusammen, was auch – weil zum Teil andere Ventile nicht mehr vorhanden sind – in solch grauenhaften Rachetaten endet. Ich kenne diesen Fall Luise auch nur aus den Medien, aber hier könnte offensichtlich Mobbing, dass sich die Täterinnen durch das Opfer gemobbt und entwertet gefühlt haben, eine Rolle spielen – und das ist nichts Spektakuläres, das sind diese vielen kleinen Stiche. Mobbing ist nichts anderes als systematisches Kränken und diese kleinen Dinge, die dann halt dazu führen, dass es zu diesen maximalen Aggressionsentgleisungen kommt, wie in diesem Gott sei Dank seltenen Fall Luise.
Mobbing begleitet viele Jugendliche mittlerweile tagtäglich, wegen der sozialen Medien bekommt es aber eine neue Tragweite. Wird dieses Problem oft unterschätzt?
Ich will die Opfer- und Täter-Rolle in diesem Fall Luise jetzt nicht umdrehen, aber aus der Sprache des Verbrechens kann man schon rückfolgern, dass die Täterinnen nicht psychisch krank sind oder unter einer Psychose leiden. Zudem ist die Tat offensichtlich nicht in einer affektiv aufgeschaukelten Situation erfolgt, sondern war geplant und wurde mit einer unglaublichen Aggressivität – es heißt es wurden über 70 Stiche gezählt – ausgeführt. Ich glaube, dass das schon ein Stück weit mit diesem generellen Verlust des Empathievermögens bei gleichzeitig hohem Bedürfnis nach Empathie – man will selbst empathisch behandelt und anerkannt werden – zusammenhängt. Nach außen will man immer stark sein, man setzt dieses Pokerface auf, die Maske der Coolness und übersieht dabei, dass dahinter diese Kränkbarkeitsgrenze im Zeitalter des Narzissmus, wo das Ich über alles gestellt wird und auch kleine Angriffe als sehr verletzend empfunden werden, gesunken ist.
Worauf kann man diesen Empathieverlust zurückführen?
Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass die Jugendlichen selbst zu wenig bekommen, also in der Erziehung zu wenig von den drei großen „Z“ – Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit – gespürt haben. Dann hat es auch ein bisschen damit zu tun, dass wir versuchen die Emotionalität zu digitalisieren und Digitalisierung ist nie empathisch. Mittlerweile läuft es in die Richtung, dass wir alles an den Computer delegieren, Emotionalität mit Smileys ausdrücken usw. Und ich glaube schon, dass es mit dem Zeitgeist zu tun hat, dass man Emotionen, Verletzlichkeit und Gefühle nicht mehr zeigen will – das ist nicht mehr „in“. Und wenn man nach außen hin nichts zeigt, braut sich im Inneren oft etwas zusammen, was in so furchtbaren Aggressionsentladungen zum Vorschein kommt.
Glauben Sie, dass auch Gewaltvideos in der Ausübung von Gewalt eine Rolle spielen?
Wahrscheinlich auch, aber nicht die entscheidende. Gewaltvideos regen nicht nur zum Nachahmen an, sondern bedeuten gleichzeitig auch eine Aggressionsabfuhr, also sie führen auch dazu, dass die eigene Aggressivität ein Stück weit abgebaut wird, genauso wie bei Killer-Spielen. Aber dass sie einer von mehreren Faktoren sind, das glaube ich schon – das Empathie-Problem bleibt für mich aber das zentrale.
Mittlerweile kann man auch beobachten, dass Gewalttaten gefilmt und anschließend verschickt oder ins Netz gestellt werden…
Das hat wiederum mit diesem starken gesellschaftlichen Narzissmus zu tun, mit dieser Selbstdarstellung, was man für „Super-Kerl“ ist, den andere zu fürchten haben.
Es geht aber nicht mehr nur um die „harten Kerle“, die sich prügeln, auch Mädchen schlagen zu…
Die Angleichung der Geschlechter, die wir fordern und in vielen Bereichen als etwas Positives sehen, gibt es natürlich auch bei negativen Dingen. Mädchen rauchen heute inzwischen häufiger als Burschen, der Drogen- und Alkoholmissbrauch gleicht sich auch zunehmend an und die Aggressivität und Suizidalität eben auch.
Haben auch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen einen Einfluss auf diese Gewaltbereitschaft und Aggressivität?
Das kann ich mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen, diese Zeit liegt hinter uns. Im Lockdown war das sicher ein Faktor, der Gewalttätigkeit erhöht hat, aber dass es jetzt noch solche Nachwirkungen hätte, wäre viel zu weit hergeholt.
Seit dem Fall Luise wird erneut eine Debatte über die Straffähigkeit von Kindern geführt. Müsste man das Alter senken bzw. die Altersgrenze ganz abschaffen?
Ich glaube schon, dass man sich darüber Gedanken machen muss. Ich weiß, dass dies kein moderner Standpunkt ist, weil Kinder- und Jugendpsychiater strikt gegen eine Senkung des Alters sind, aber ich kann mich dem nicht anschließen. Wenn die Grenze zum Erwachsenwerden immer weiter sinkt, dann glaube ich, muss auch die Verantwortlichkeit hinuntergesetzt werden. Es kann nicht sein, dass sich beispielsweise in diesem Fall Luise die Täterinnen vorher im Internet über Strafunfähigkeit schlau machen, dann wissen, dass sie nicht bestraft werden können und das dann auch ein wichtiges Motiv für ihre Tat ist. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Ich glaube deswegen, dass man diese Diskussion ernsthaft führen muss, wobei das nicht heißt, dass man gleich mit der vollen Härte des Gesetzes durchgreifen muss, sondern kinder- bzw. jugendgerechte Strafen zur Anwendung kommen.
Interview: Lisi Lang
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Kommentare (6)
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frechdachs
Schmarrn
george
Präsent schon. Ob sie dann aber wirklich so stark nachwirken, indem sie alles andere vorher überlagern oder übersteigern, wage ich zu bezweifeln. Das Resultat einer Einstellung und Verhaltensweise ist immer die Überlagerung und Vernetzung vieler einzelner Faktoren, die dann stärker oder schwächer bei jedem Individuum und auch unterschiedlich durchdringen, je nachdem in welchem Umfeld es aufgewachsen ist.