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Wer sind die „wegweisenden“ Südtiroler Frauen?

Franziska Cont: Das Fehlen von Frauen in der Benennungspraxis des Landes zeigt klar, wie männlich geprägt die Erinnerungskultur immer noch ist.

Die Historikerinnen Franziska Cont und Siglinde Clementi vom Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen haben einen Leitfaden zur Benennung von Straßen und Plätzen in Südtirol mit weiblichen Persönlichkeiten erstellt. Bringt es etwas für die Gleichstellung zwischen Mann und Frau, wenn mehr Straßen nach Frauen benannt sind? Ein Gespräch mit Franziska Cont.

Tageszeitung: Frau Cont, wenn man durch Südtiroler Städte und Dörfer geht und die Straßennamen liest, hat man den Eindruck in einem Land ohne Frauen zu leben. Ärgert Sie das?

Franziska Cont: Ich würde nicht sagen, dass es mich ärgert. Vielmehr finde ich die Rückschlüsse, die sich daraus ziehen lassen, bedenklich. Das Fehlen von Frauen in der Benennungspraxis des Landes zeigt klar, wie männlich geprägt die Erinnerungskultur immer noch ist. Das ist vor allem dann besorgniserregend, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Art und Weise Vergangenes zu erinnern, sehr viel über gesellschaftliche Wertehaltungen aussagt.

Warum ist es wichtig, dass mehr Straßen und Plätze nach Frauen benannt werden und was bringt das für die Gleichstellung zwischen Mann und Frau?

 Straßennamen sind ein zentrales Medium der Erinnerungskultur. Sie haben neben der symbolischen Funktion auch eine praktische. Wir verwenden sie im alltäglichen Leben, ohne ihre Bedeutung bewusst wahrzunehmen. Trotzdem tragen sie in der Gesellschaft zur Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit bei, die zur Erklärung und Legitimation der Gegenwart dient. Wenn wir die Leistungen von Frauen verschweigen, so bedeutet dies, dass wir unsere Gegenwart als reines „Männerprodukt“ darstellen und dadurch das bestehende Machtgefälle rechtfertigen. Die Benennung von Straßen nach Frauen ist eine der Möglichkeiten, daran zu rütteln und den weiblichen Anteil an der Geschichte öffentlich sichtbar zu machen.

Es geht also nicht nur um Straßennamen, sondern um Erinnerungskultur im kollektiven Gedächtnisraum Straße?

 Genau, Straßennamen visualisieren im öffentlichen Raum Ereignisse und Persönlichkeiten, die unseren individuellen Erfahrungshorizont überschreiten, machen sie so zu einem Teil unserer alltäglichen Realität und konstruieren dadurch die Vorstellung einer gemeinsamen Vergangenheit.

Aktuell tragen italienweit gerade 6,6 Prozent der Straßen weibliche Namen. Diese zahlenmäßige Diskrepanz dürfte erst in ein paar Hundert Jahren oder überhaupt nie aufzuholen sein.

 Wenn wir über das Fehlen von Frauen im „kollektiven Gedächtnis“ sprechen, geht es nicht ausschließlich um Straßennamen. Auch in anderen Medien der Erinnerungskultur sind Frauen, wenn überhaupt, spärlich präsent. Dies gilt beispielsweise auch für Denkmäler oder Schulnamen. Ebenfalls können Schulbücher, Stadtführer oder Dorfbücher genannt werden. In unserer Arbeit haben wir uns beispielsweise mit den Südtiroler Dorfbüchern auseinandergesetzt, die zumeist Aufzählungen von Bürgermeistern, Pfarrern und sonstigen als wichtig erachteten Männern im Dorf beinhalten, aber beinahe konsequent die zentrale Figur der Dorfhebamme ausklammern.

Straßennamen wurden fast immer nach politischen, nationalen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Kriterien vergeben.  Soziales oder pädagogisches Engagement wurde und wird nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. Ist das der Grund, warum es so wenig weibliche Straßennamen gibt?

Das ist sicher ein wichtiger Punkt. Während sich die Geschichtswissenschaften schon seit längerem von den Erzählungen der „großen Männer“ abgewandt haben, hinkt die Erinnerungskultur hinterher. Hier klammern wir immer noch fast konsequent jene Bereiche aus, in denen Frauen stark vertreten waren: Leistungen im Pflege-, Fürsorge- und Erziehungsbereich erscheinen uns als nicht geschichts- und erinnerungswürdig. Das Fehlen von Frauen erklärt sich aber nicht ausschließlich dadurch, sondern ist auch auf verschiedenste Praktiken des Ignorierens, Bagatellisierens, Diffamierens und Diskreditierens gegenüber Frauen, die die bürgerlichen Rollenbilder überschritten, zurückzuführen. Auch in der Regionalgeschichte können ähnliche Tendenzen ausgemacht werden. Das Ignorieren von weiblichen Leistungen zeigt sich des Weiteren in der unhinterfragten Anwendung von männlichen Definitionen. So verstehen wir beispielsweise in einer populären Vorstellung unter „Widerstand“ den militärischen Kampf und verkennen die politische Tragweite einer Vielzahl von anderen Widerstandsformen. Eine breitere Definition des Begriffes, die sich über den militärischen Kampf hinaus erstreckt, erlaubt es beispielsweise die Tätigkeit der Lehrpersonen der „Katakombenschulen“, bei denen es sich um fast ausschließlich junge Frauen handelte, als Widerstandshandlungen anzuerkennen.

 In Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte haben Sie eine Liste von 200 „wegweisenden“ Frauen erstellt, nach denen künftig Plätze und Straßen benannt werden können. Die Liste ist in internationale und regionale Frauenfiguren aufgeteilt. Nach welchen Kriterien haben Sie die Frauen ausgesucht?

In Bezug auf die inter/nationalen Ebene haben wir Frauen ausgewählt, die eine große Bekanntheit genießen und/oder zentral für die Frauengeschichte sind. Es ist dadurch eine Art weiblicher Benennungskanon, den wir vorstellen. Bevorzugt haben wir in der Auswahl vor allem Frauen aus dem deutsch- und italienischsprachigen Raum sowie Frauen, die sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit eingesetzt haben und/oder als Pionierinnen in „männlichen“ Bereichen wirkten. Auf einer regional-lokalen Ebene war das leitende Kriterium jenes der Ausgewogenheit, das heißt, es wurde versucht bestmöglich alle Talschaften und alle drei Sprachgruppen zu berücksichtigen. Dafür haben wir eine doppelte Vorgehensweise gewählt: Einerseits wurde auf eine breite Auswahl von bestehender Literatur zurückgegriffen. Beispielsweise haben wir einen Großteil der Südtiroler Dorfbücher ausgewertet. Andererseits haben wir das Gespräch zu Kultur- und Geschichtsexpert*innen der Region gesucht. Auf diesem Wege konnten Primärquellen ausfindig gemacht und der Kontakt zu Interviewpartner*innen hergestellt werden. Es war dadurch möglich auch neue, bislang unbekannte Frauenpersönlichkeiten ans Tageslicht zu befördern.

Es stehen sehr viele unbekannte Namen auf der Liste.  Wie viele von den 138 regionalen und lokalen Frauen waren Ihnen vor der Recherche bekannt?

Erstaunlich wenige. Ich glaube, das liegt auch daran, dass vielfach für die regionale Geschichte Überblickswerke fehlen, die Frauen berücksichtigen. Wer also nicht dezidiert nach einschlägiger biografischer Literatur zu Südtiroler Frauen sucht, kennt ihre Namen und Lebensgeschichten nicht. Auch das wollen wir mit unserem Handbuch ändern.

 Nehmen wir zum Beispiel die Schwester Oberin des Jesuheims in Girlan Edwina Aberham, die die Pfleglinge des Heims vor der Eutanasie der Nazis bewahrt hat. Wie hat sie das geschafft?

Während im Psychiatrischen Krankenhaus von Pergine den Patient*innen nahe gelegt wurde, für das Deutsche Reich zu optieren, war im Jesuheim in Girlan genau das Gegenteil der Fall. Sr. Edwina Aberham zeigte als Oberin des Heimes wenig Willen zur Kooperation mit den Optionsbehörden. Sie wusste wohl über die reichsdeutschen „Euthanasie“-Bestrebungen Bescheid und schützte ihre „Pfleglinge“ vor der „Absiedlung“ und der möglichen Tötung, indem sie versuchte, sie in ihrer Optionsentscheidung zu beeinflussen, ihnen Optionsformulare vorenthielt oder falsche Dokumente aushändigte. Der Verdacht der Beeinflussung zum „Dableiben“ von Heimbewohner*innen führt sogar zu einer Polizeikontrolle im Heim. Für das Jesuheim unter der Führung von Sr. Edwina ist auch eine breitere Aktion des Widerstandes nachzuweisen. Kurz vor der „Absiedlung“ von Patient*innen verweigerten überraschend eine Reihe von Angehörigen ihre Genehmigung. Der Aktion muss eine Absprache zwischen den Angehörigen von Heimbewohner*innen aus verschiedensten Landesteilen vorangegangen sein. Ob Sr. Edwina daran beteiligt war, lässt sich nicht belegen, kann jedoch vermutet werden.

 Oder Elisabeth Kofler-Langer, die Mutter von Alexander Langer, eine promovierte Chemikerin und erste Frau im Sterzinger Gemeinderat. Warum verdient sie sich eine Erinnerung?

Elisabeth Kofler-Langer war eine doppelte Pionierin in männlich dominierten Bereichen: Als erste Frau Italiens legte sie in den 1930er-Jahren ihr Chemie-Studium ab erwarb sie einen Doktortitel in Chemie. 1952 war sie die erste Frau im Sterzinger Gemeinderat. Hier setzte sie sich vor allem für kulturelle Belange ein. Teile ihres Tagebuches hat ihr Sohn Alexander 1982 in der Wochenzeitung „Tandem“ abgedruckt. In den Aufzeichnungen wird ersichtlich, dass Kofler-Langer auch 1945 bei der Übergabe Sterzings an die alliierten Soldaten eine zentrale Rolle gespielt hat. In den ersten Wochen nach Kriegsende fungierte sie als lokale Kontakt- und Verhandlungsperson sowie als Übersetzerin.

Zwei bekannte Persönlichkeiten wie Victoria Stadelmayer oder die Künstlerin Tullia Socin kommen in der Liste  nicht vor. Mit welcher Begründung?

 Wenn es um Benennungen geht, ist die Frage nach der historischen Belastung zentral. Wir haben in diesem Sinne Ausschlusskriterien definiert. Für Frauen, in deren Biografie eine Verstrickung mit dem nationalsozialistischem und/oder faschistischem Regime aufscheint, haben wir keine Empfehlung ausgesprochen. Dies trifft auch auf die zwei genannten Frauen zu. Viktoria Stadlmayer zählt zwar zu den wichtigsten Akteur*innen der Südtiroler Autonomiegeschichte, biografische Details aus der Zeit vor 1945 zeigen jedoch eindeutig ihre aktive Unterstützung des NS-Regimes.

Im Falle der Künstlerin Tullia Socin kann hingegen von einem „Nutznießertum“ gesprochen werden: Einige ihrer Werke der 1930er-Jahre zeigen in Bezug auf Motive und Ikonografie eindeutige Rückgriffe auf die politische Ideologie des Faschismus. Diese Ausrichtung erwies sich für die Künstlerin als karrierefördernd: Socins Bilder gewannen Preise, wurden von zahlreichen Kunstkritiker*innen rezensiert, in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt und dadurch einem nationalen Publikum bekannt gemacht.

Es gibt nach wie vor problematische Namensgebungen in Südtirol, etwa die Cadorna und die Amba Alagi Straße in Bozen oder die Bruder Willram Straße in Bruneck. Plädieren Sie für eine Umbenennung?

 An allererster Stelle sollte es nicht um Umbenennung gehen, sondern um eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage von belastetem Namensgut im öffentlichen Raum. Für Südtirol ist eine solche Arbeit noch ausständig, aber unbedingt notwendig. Danach muss in jedem einzelnen Fall über die Vorgangsweise entschieden werden. Es steht ja nicht nur die Umbenennung als Möglichkeit im Raum. In verschiedensten deutschen und österreichischen Städten wurde das Problem beispielweise auch mit der Anbringung von Zusatztafeln oder anderen Formen der Kontextualisierung gelöst.

Interview: Heinrich Schwazer

Zur Person

Franziska Cont, geb. 1994, studierte Geschichte in Padova und Wien mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte. 2022: Auszeichnung der Masterarbeit („Kranke Körper? Themen und Frauenbilder der italienischen Psychiatriegeschichte zwischen liberalem und faschistischem Italien“) mit dem 3. Preis für wissenschaftliche Arbeiten betreffend die Situation der Frau in der Gesellschaft oder die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau, Landesbeirat für Chancengleichheit für Frauen. Forschungsassistentin am Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen (Forschungsprojekt „Frauenbiographien und Straßennamen“; Laufzeit von Juli 2021 bis März 2023).

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (3)

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  • andreas1234567

    Herrgott ja,

    dann macht halt eine „Luis- Durnwalder seine Frau“-Strasse damit eine Ruhe ist.

    Und nun ohne Spass, das Gesamtwerk umfasst weit über 400 Seiten und jeder Interessierte kann es sich herunterladen.

    https://webservices.scientificnet.org/rest/entries/api/v1/blobs/204482

    Was wahrscheinlich komplett untergehen würde weil wahrscheinlich niemand das steuerfinanzierte Schriftwerk studieren wird..

    Es werden auch Frauen in den Katakombenschulenzeiten des faschistischen Widerstands besprochen, natürlich ganz hinten ab Seite 400.
    Dafür aber fair und wohl zutreffend (die nervigen Sternchen welche die Artikel sprachlich verhunzen muss man ignorieren)
    Es werden unter anderem eine Angela Nicoletti geehrt, in dem Bericht richtigerweise unter „verstorben aufgrund der Haftbedingungen“ erwähnt.
    Dort findet sich auch die Lebensgeschichte weiterer tapferer Frauen im illegalem deutschsprachigen Schuldienst.

    Ich denke die Heimmattreuen von Südtirol sollten mal ab Seite 400 drüberschauen ob nicht tatsächlich 5 oder 6 Strassen in Neubaugebieten nach diesen tapferen Frauen benannt werden können

    Auf Wiedersehen in Südtirol

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