Gegen Biederkeit
Laura Poitras gewann mit dem Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ den Goldenen Löwen in Venedig. MI und DO, Filmclub.
von Renate Mumelter
Eigentlich geht es in „All die Schönheit und das Blutvergießen“ um tödliche Biederkeit. Und es geht um Geldgier. Es geht aber auch ums Schweigen.
Das Leben leben
Zunächst ist Poitras‘ Film ein Bilderrausch. Die beeindruckenden Bilder sind von der Fotografin Nan Goldin. Es geht aber nicht nur um Goldins Kunst, sondern vor allem auch um die Frage, wie sich ein Leben leben lässt, ohne dass frau am Ende mit „unauslöschlichem Bedauern“ aufs Nichtgelebte zurückblicken muss.
Die Filmerzählung beginnt in der Gegenwart im MET in New York. Eine Aktion der Aktivistin Goldin will Bewusstsein wecken ohne Schaden anzurichten, grad so wie es letzthin (zu einer anderen Thematik) im Naturmuseum in Bozen oder auch am Neptunbrunnen der Fall war.
Nan Goldin
Jg. 1953, „Themen ihrer Fotografien sind Sex, Drogen und Gewalt, damit verbunden auch der Tod. Dabei gewährt die Fotografin einen sehr persönlichen Einblick in ihr Leben. Ihre Bilder sind geprägt von einer schonungslosen Direktheit, die auch vor intimen Momenten nicht zurückschreckt,“ schreibt Wikipedia. Wirklich griffig ist das nicht. Ganz anders Poitras‘ Film. Der springt direkt in die Welt der Nan Goldin und erzählt, wie die junge Frau zur Künstlerin wurde und warum sie Aktivistin werden musste.
Grundlage für die Erzählung sind Goldins Bilder. Sie wurde in Washington D.C. in eine biedere, verschwiegene und vor allem schwierige amerikanische Familie geboren. Ihre acht Jahre ältere Schwester beging Selbstmord. Nan musste weg, wurde herumgeschoben, lebte mit 14 bei ihren Freunden und „kam auf die schiefe Bahn“ wie die Biederen sagen würden. Nan lebte selbst all das, was in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren Thema war: Sex, Drugs, gleichgeschlechtliche Liebe, Dragqueens, Table Dance, Prostitution, und immer fotografierte sie. Viele ihrer besten Freundinnen und Freunde starben an Aids. Nan Goldin hielt alles fest. Bekannt wurde sie für ihre ungewöhnlichen Slide Shows, damals noch mit Dias.
Legale Drogenhändler
Beginnen tut der Film mit der Aktivistin Goldin: Mitglieder der Gruppe P.A.I.N werfen im MET orange Plastikbehälter ins Wasser, die vorher ein Schmerzmittel enthielten. Über Jahre wurde das Opioid als harmlos vermarktet. Viele Menschen wurden davon abhängig und starben. Die Pharmafamilie Sackler wurde im Gegenzug noch reicher als sie es Dank Valium schon geworden war. Mit dem Geld machten die Sacklers auf Kunstmäzenatentum, bauten beispielsweise im MET einen Sackler Wing, einen ganzen Flügel. Der Name Sackler prangte gülden in vielen Museen der Welt.
Dass diese Lettern heute weg sind, hat mit der Fotografin Nan Goldin zu tun, mit ihrer Lebensgeschichte, mit ihrer Kunst, die in vielen großen Museen ausgestellt ist, und mit P.A.I.N, deren Gründerin sie in späteren Lebensjahren wurde. Die Gruppe setzt sich für begleiteten Entzug ein, für sichere Drogen, für die Begleitung von Angehörigen und Freunden, und für mehr Transparenz bei Medikamenten, damit es nicht noch einmal zu einer Opioidkrise kommt. Bei dieser starben in den USA von 1999 bis 2022 fast eine Million Menschen an einer Überdosis. Die meisten waren von Schmerzmitteln abhängig geworden, die man ihnen verschrieben hatte.
Der Film, ein Weg
Auf dem spannenden Weg, den Poitras vorausgeht, kann es geschehen, dass im Publikum die eine oder andere festgefügte Meinung über heile Familie, Geschlechtlichkeit, Sexualität und geistige Gesundheit revidiert werden muss. Es lohnt sich, dranzubleiben an dieser mehrsträngigen, bildstarken Geschichte.
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