„Nicht in den Wald gehen“
Sie redet viel, sie hat Humor und sie deklamiert lautstark: Bianca Pucciarelli Menna, in arte Tomaso Binga, zu Gast in der Stiftung Antonio Dalle Nogare im Rahmen der Ausstellung „Re-Materialisierung der Sprache. 1978-2022“.
Mit Diäten kann frau (und man) sich wortwörtlich bis auf die Eingeweide foltern. Frauen, die zu Tode betrübt aus Umkleidekabinen herauskommen, obwohl sie nur mehr Rucola zu sich nehmen, sind auf Instagram ein viraler Hit. Frau kann aber auch mit ganz anderen Waffen gegen den Diätwahn antreten: Zum Beispiel mit Gedichten wie Bianca Pucciarelli Menna.
Die unter dem Künstlernamen Tomaso Binga firmierende Dichterin hat die grassierende Not mit der Diät in Lyrik gepackt, die vor ironischen Bilder, Parodien und Pointen nur so strahlt. Es beginnt mit den hoffnungsvollen Versen: „Acht Monate Diät 68 Kilo/erster Tag/sechs acht/ Habe Öl und Kekse abgeschafft/ sechs acht sechs acht/ sechs acht sechs acht/ sechs sieben sechs sieben/ …“ Wenige Tag danach wird´s hart: „Einen Ochs zu verspeisen, wär´ ich gleich dabei“ und am Ende ist der Erfolg gleich null: „Acht Monate Diät/ von … 68 kg zu … 68 kg/ sechs acht sechs acht/ sechs acht sechs acht“
Wer den Kampf um das Körpergewicht in seiner ganzen Schönheit und Vergeblichkeit so humorig frei von jeglicher hochtrabender lyrischer Überheblichkeit und poetischer Hochstapelei zu entfalten versteht, muss eine Dichterin sein.
92 Jahre jung ist Bianca Pucciarelli Menna, in arte Tomaso Binga, doch wenn sie mit leuchtenden Augen, ausladenden Gesten, einer einnehmenden und entwaffnenden Begeisterung ihre Lautgedichte deklamiert, hört man einer zeitlos belebten und beseelten Solo-Stimme zu. Vergangene Woche war sie im Rahmen der Ausstellung „Re-Materialisierung der Sprache. 1978-2022“ zu Gast in der Stiftung Antonio Dalle Nogare und jede/r, die/er es erlebt hat, konnte sich mit eigenen Augen und Ohren davon überzeugen, warum sie eine der wichtigsten Protagonistinnen der phonetischen Poesie in Italien war und ist.
Feministin, keine Frage, aber keine, die sich unter dem Opferbeil des Patriarchats sah. Die Neigung zum frustrierten Opferdasein lag ihr nicht, viel eher wollte sie Protagonistin der Veränderung sein. Allein die Wahl des männlichen Künstlernamens Tomaso in Anlehnung an den Begründer des Futurismus Filippo Tommaso Marinettiwar eine ironische Provokation durch Affirmation.
Dem kann man vieles nachsagen, aber bestimmt nicht, dass er ein Fan des Feminismus war. Im Gegenteil: Die Futuristen verachteten die zugeschriebene Gebrechlichkeit des „ schwachen Geschlechts “, seinen Hang zur „ Sentimentalität “ und machten die „Verachtung der Frau “ zum Programm. In seinem Handbuch „Wie man die Frauen verführt“ von 1909 erklärte Marinetti, wie der Mann mit seinem agilen, militärisch gestählten Körper Frauen zu willenlosen Dienerinnen seines Begehrens machen kann.
Was bewegt eine feministische Künstlerin und Dichterin sich ausgerechnet den Namen dieses Frauenverachters als Künstlername zuzulegen? Auch wenn Ironie im postironischen Zeitalter ausgedient hat und von der Fuchtel des Identitätsdiskurses verjagt wurde, für Tomaso Binga war sie anno dazumal ein probates Mittel der Provokaktion. Mit der scheinbar affirmativen Annahme einer männlichen Identität prangerte sie die Privilegien der Männer in der Kunstwelt an. Sie selbst fand den Ort ihrer Kunst in der Lautpoesie und der ironisch-bissigen Performance. Das Groteske, das Respektlose, das Unsinnige, das Alltägliche, das Volkstümliche, aber auch die Geräusche der technischen Welt sind die Zutaten ihrer Performance-Gedichte. „Nicht in den Wald gehen <> Nicht in den Wald gehen/ Nicht in den Wald gehen/ Nicht/ gehen/ Nicht mit anderen reden …“ heißt es in dem Rotkäppchen-Gedicht „Wolf-Mutter (Käppchens Lied)“. Auch wenn die Nähe zur konkreten und visuellen Poesie unübersehbar ist, den Schritt zu reinen Lautgedichten vollzieht Binga nicht – ihre Texte lenken die Einbildungskraft stets in ganz konkrete Richtungen. „„Ich war schön/ Ich war jung und stark/ und … ich bin gestorben“ heißt es in dem Gedicht „Marilyn“.
Als Bild-Text-Künstlerin ist Tomaso Binga auch Teil der aktuell in der Stiftung Dalle Nogare laufenden Ausstellung „Re-Materialisierung der Sprache. 1978-2022“. Die von Cristiana Perrella, Andrea Viliani und Vittoria Pavesi kuratierte Ausstellung ist „der erste Versuch einer philologischen Re-Konstruktion und zeitgenössischen Re-Aktivierung“ von Mirella Bentivoglios legendärer Biennale-Schau aus dem Jahr 1978. Carlo Ripa di Meana, damals Präsident der Biennale, beauftragte die Künstlerin und Dichterin Mirella Bentivoglio (Klagenfurt 1922 – Rom 2017) eine Ausstellung zu weiblichen Kunstpraktiken zu kuratieren. In den Katalog der Biennale wurde die Ausstellung zwar nicht aufgenommen und sie fand auch nicht zeitgleich mit der Hauptausstellung statt, doch die Tür war erstmals geöffnet. 80 Künstlerinnen, die sich im 20. Jahrhundert mit der Wechselwirkung zwischen Wort und Bild beschäftigt haben, versammelte die Ausstellung unter dem Titel „Materializzazione del linguaggio“ im Magazzini del Sale, darunter Cathy Barberian, Irma Blank, Betty Danon, Sonia Delaunay, Agnes Denes, Chiara Diamantini, Amelia Etlinger, Natalia Goncarova, Elisabetta Gut, Ketty La Rocca, Maria Lai, Lucia Marcucci, Anna Oberto, Giulia Niccolai, Betty Radin, Regina, Olga Rozanova, Chima Sunada, Carla Vasio und Tomaso Binga.
Die Ausstellung zeigt viel Papier – doch papiern ist sie nicht. Sie ist buchstäblich. Der Auftritt der Performancekünstlerin Tomaso Binga hat die Kraft dieser Kunst einmal mehr verlebendigt. (Heinrich Schwazer)
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