Kindsmord
„Saint Omer“ ist der Titel des sehenswerten Spielfilms von Alice Diop. Saint Omer ist auch ein Ort in Nordfrankreich. Dort fand 2016 ein Prozess wegen Kindsmordes statt.
von Renate Mumelter
Sie steht mit braunem Shirt vor der braunen Täfelung des Gerichtssaals und ihre schönen dunkelbraunen Augen schauen aus ihrem braunen Gesicht zur Richterin. Laurence Coly wird beschuldigt, ihr Kind ermordet zu haben.
Die Richterin ist weiß, älter, und sie stellt ungewöhnliche Fragen. Der Staatsanwalt ist weiß, älter und wenig interessiert. Die Verteidigerin ist blond, kurzhaarig, aufmerksam. Im Publikum sitzt eine dunkelhäutige Frau. Sie heißt Rama, ist Schriftstellerin und arbeitet am Roman „Médée naufragée“. Ebenfalls im Publikum der alte Vater der ermordeten Kindes, der nix mit dem Ganzen zu tun haben will. Die Mutter der Angeklagten sitzt auch im Publikum. Wie das Schwurgericht entscheiden wird, ist nicht zu erfahren, das ist auch unwichtig, denn Alice Diop erzählt etwas anderes. Sie erzählt davon, wie es zu Kindsmord kommen kann.
Raffinierte Form
Selten habe ich einen Film gesehen, der so gezielt mit formalen Elementen arbeitet wie dieser. Allein der Braunton rund um Laurence erzählt schon eine Geschichte. Die Kamerapositionen stellen das Publikum zwischendurch in ein neugieriges Abseits, das während des Schauens aufhorchen lässt. Auf der Tonschiene gibt es keine Musik, dafür aber kleine Alltagstöne, die überall im Kinosaal Außenwelt andeuten. Am Ende dann „Little Girl Blue“: I know you’re unhappy.
Die Kamera ist dann wenn es wichtig ist nahe an den Protagonistinnen, die ohne großes Mienenspiel viel erzählen. Fast bewegungslos bleibt Guslagie Malanda als Angeklagte, jeder beschleunigte Atemzug fällt auf. In Kayije Kagames Blicken spiegeln sich die großen Fragen, mit denen die Schriftstellerin Rama durchs Leben geht. Die Richterin deutet Tränen an, die ihr nicht zustünden, und die Verteidigerin spricht ihr Plädoyer direkt in den Kinosaal.
Warum
Das ist die Frage, auf die sich die Angeklagte eine Antwort erwartet. Die Anwältin plädiert für Behandeln statt Wegsperren. Der Staatsanwalt sieht schwere Schuld. Der Kindsvater weiß von nichts. Frau und Kind waren für das Umfeld unsichtbar.
Die Angeklagte ist gebildet, sie wollte über Wittgenstein dissertieren. Die Frage nach Wittgenstein wäre eine eigene Recherche wert, die Mikrochimären genauso. Diese Kindszellen gehen auf den Mutterleib über und sind dort auch später noch zu finden. Eine enge biologische Bindung.
Und dann gibt es auch noch die Hexerei, von der die Angeklagte spricht. Einen Augenblick lang fragt der Film wortlos und mit einem Lächeln der Protagonistinnen, ob so ein Fluch auch mit Blicken übertragen werden kann.
Medea
Und schon sind wir bei der Kindsmörderin der klassischen Antike, Medea, die bei Diop in Ausschnitten aus Pasolinis Film aus dem Jahr 1969 zu sehen ist. Der Medea-Mythos erzählt nicht nur von Kindsmord sondern auch vom Aufeinandertreffen von Kulturen, Medeas archaisch-animistischer und Jasons rationaler. Medea wird trotz aller Anpassung nie wirklich akzeptiert. Damit katapultiert uns Diop direkt ins heutige Europa, das zu animistischen Kulturen so gar keinen Zugang hat, weil es nichts davon weiß.
Alice Diop
wurde in Frankreich geboren. Ihre Eltern waren in den 1960ern aus dem Senegal zugewandert, der Vater war Mechaniker, die Mutter Putzfrau und Analphabetin. Diop hat einen Master in Geschichte, Studien in Visual Sociology und am Dokumentarfilmatelier der Filmhochschule „La femìs“.
Guslagie Malanda ist Französin, hat Kunstgeschichte studiert, Kayije Kagame wurde in Genf geboren. Ihr Vater war politischer Journalist in Kigali (Ruanda), ihre Mutter Lehrerin.
Ähnliche Artikel
Kommentar abgeben
Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.