„Enorme Dunkelziffer“
Beinahe jede dritte Frau, die Opfer von häuslicher Gewalt wurde, kehrt zu ihrem gewalttätigen Partner zurück. GEA-Präsidentin Christine Clignon erklärt, warum der Ausbruch aus einer Gewaltspirale schwierig ist.
Tageszeitung: Frau Clignon, im Jahr 2021 wurden fast 600 Frauen in den Beratungsstellen für Frauen in Gewaltsituationen betreut. Hat die Gewalt gegen Frauen zugenommen?
Christine Clignon (Präsidentin des Vereins GEA-Kontaktstelle gegen Gewalt): Wir können ganz klar beobachten, dass sich immer mehr Frauen an uns wenden – unabhängig von Alter, Herkunft oder Sprachzugehörigkeit. Das hängt aber nicht unbedingt damit zusammen, dass das Phänomen der Gewalt gegen Frauen zugenommen hat, sondern es ist ein Bewusstsein entstanden, dass es einen Ausweg aus Gewaltsituationen gibt. Diese Zahlen beschreiben also nicht das Phänomen der Gewalt an sich, sondern zeigen nur jenen Teil auf, der sichtbar wird. Es gibt eine enorme Dunkelziffer.
Die Aufnahmen in den geschützten Einrichtungen haben um 44 Prozent zugenommen. Reichen die Strukturen in Südtirol aus, um dem aktuellen Bedarf gerecht zu werden?
Nein. Die Konvention von Istanbul, die mittlerweile vor fast 12 Jahren von Italien ratifiziert wurde, schreibt vor, wie viele geschützte Wohnungen es pro Einwohner braucht – und für Südtirol würde dieser Schlüssel bedeuten, dass es 52 Plätze braucht, wir haben aber nur 38.
Also bräuchte es noch einige Plätze mehr…
Absolut, vor allem weil der Bedarf da ist – und die aktuell steigende Tendenz, dass immer mehr Frauen Hilfe suchen, wird in den nächsten Jahren auch nicht nachlassen.
Die Astat-Daten zeigen auch, dass 29 Prozent der Frauen nach ihrem Aufenthalt im Frauenhaus in ihre ursprüngliche Wohnung zum Gewalttäter zurückkehren. Warum?
Das lässt sich anhand von zwei „Punkten“ erklären: Bei einem Ausstieg aus einer Gewaltsituation in der Beziehung ist maßgebend, was von außen – von der Gesellschaft, Ordnungskräften, Gericht usw. – für ein Feedback kommt. Zudem spielt der Zugriff auf Ressourcen, eine Wohnung oder einen Job, eine große Rolle. Wenn es bei diesen beiden „Punkten“ hapert, dann ist es für eine Frau noch einmal schwieriger auszusteigen. Auch muss man die Dynamik der Gewaltspirale betrachten.
Wie meine Sie das?
Die Gewaltspirale können wir in jeder gewalttätigen Beziehung beobachten. Kein gewalttätiger Mann klopft an die Tür und präsentiert sich mit einem Messer, sondern er ist am Beginn einer Beziehung meist ein sehr guter Charmeur, ein sehr guter Manipulator, der den Frauen den Eindruck vermittelt, er sei der Traumprinz, auf den sie schon immer gewartet haben. Für die Frauen fühlt es sich in diesem Moment wie eine richtige Hochphase an, auf welche dann aber eine Phase zunehmender Konflikte und Kontrollausübung seitens des Täters folgt. Dann kommt es zu Gewalteskalationen, auf welche dann unweigerlich Entschuldigungen folgen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Auf diese Phase der Entschuldigung folgt dann erneut eine Hochphase und so dreht sich das weiter im Kreis. Mit den Jahren wird diese Spirale aber immer schneller, die Hochphasen werden immer kürzer und die gewalttätigen Phasen immer länger und gewalttätiger. Und aus dieser Spirale kommt man nur schwer wieder heraus, weil man mit diesem Partner ein gemeinsames Leben, ein Lebensprojekt, eine Familie mit Kindern aufgebaut hat. Die Frau wünscht sich deswegen, dem Mann die Entschuldigungen glauben zu können, weil sie sonst das gesamte Lebensprojekt, in welches sie Jahre investiert hat, übern Haufen werfen müsste. Und das erklärt, weshalb viele Frauen in dieser Phase der Entschuldigung wieder zurückgehen – was aber nicht bedeutet, dass dann nicht wieder versuchen wegzukommen.
Müssten die Frauen im Frauenhaus dahingehend noch stärker unterstützt werden?
Als Frauenhaus haben wir einen ganz klaren Auftrag: Wir begleiten die Frauen in ihrem eigenen Interesse. Wir wollen niemanden überzeugen oder zerren, weil wir wissen, dass das nicht nachhaltig ist. Allerdings wäre es sehr wichtig, die Frauenhausdienste zu potenzieren, damit die Frauen auch in den Strukturen untergebracht werden können. Natürlich können wir, wenn unsere Einrichtung belegt ist, auf Hotelzimmer ausweichen, aber das ist keine Lösung. Zum einen, weil die Sicherheit nicht so garantiert werden kann, wie in einer geschützten Einrichtung, zum anderen fällt auch alles weg, was die Solidarität unter den Frauen ausmacht – und wir konnten auch beobachten, dass Frauen, die außerhalb der geschützten Einrichtungen untergebracht waren, häufiger zu ihren gewalttätigen Partnern zurückgekehrt sind.
Interview: Lisi Lang
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