„Enormes Potential“
Männer und Frauen erleben dieselbe Krankheit oft unterschiedlich: Sie verspüren andere Symptome und sprechen auf Therapien anders an. Immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse belegen die Notwendigkeit eines geschlechtersensiblen Ansatzes in der Medizin.
Über Gendermedizin im Bereich der psychischen Gesundheit wurde im Rahmen einer vom Landesamt für Gesundheitsordnung organisierten Fachtagung diskutiert.
„Wir wissen heute, dass die Erkenntnisse der Gendermedizin enormes Potential haben, um viele Krankheiten genauer diagnostizieren und besser behandeln zu können. Damit lassen sich langfristig wichtige Einsparungen im Gesundheitswesen erzielen, und das ist im Sinne aller“, betonte Landeshauptmann und Gesundheitslandesrat Arno Kompatscher in seinen Grußworten zu Beginn der Tagung, die von Rosmarie Oberhammer, Anästhesiologin und Intensivmedizinerin sowie Expertin für Gendermedizin moderiert wurde. In dieselbe Kerbe schlug auch die Fachärztin für Psychiatrie Rosina Manfredi: Gendersensible Medizin ermögliche es, Ressourcen gezielter und wirksamer einzusetzen.
Frauen wurden in der medizinischen Forschung bisher kaum berücksichtigt
Die Tatsache, dass weibliche Zellen oder Testpersonen bei der Entwicklung und Erprobung von Medikamenten bis vor kurzem gar nicht berücksichtigt wurden – der Maßstab der meisten medizinischen Studien ist teilweise bis heute ein 75 Kilo schwerer, weißer, normalgewichtiger Mann – hat auch auf den Therapieerfolg von Psychopharmaka an Frauen mit wechselnden Hormonspiegeln und unterschiedlichsten Gewichtsklassen weitreichende Auswirkungen, wie Martin Bauer, klinischer Pharmakologe und Facharzt für Psychiatrie an der Medizinischen Universität Wien hervorhob. 2013 hat die italienische Arzneimittelagentur AIFA die pharmazeutischen Unternehmen dazu aufgerufen, für ihre Forschungen geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte Daten und geschlechtergerechte Modelle zu verwenden.
Stereotype Rollenbilder beeinflussen Selbstwahrnehmung der Betroffenen und Einschätzung des Fachpersonals
Depressive Störungen werden in Südtirol fast doppelt so häufig bei Frauen diagnostiziert als bei Männern, berichtete der Biostatiker Antonio Fanolla von der Landesbeobachtungsstelle für Gesundheit. Geschlechtshormone beeinflussen die Verfügbarkeit von Botenstoffen im Gehirn, aber auch eine unausgewogene Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau trägt zu einer vermehrten psychischen Belastung bei. Eine gute soziale Position, finanzielle Unabhängigkeit oder gesellschaftliche Anerkennung im Job wirken hingegen als Schutzfaktoren gegen Depressionen.
Über den Einfluss vorherrschender Rollenbilder auf Diagnose und den Umgang mit psychischen Störungen sprach Verena Perwanger, Primaria des Psychiatrischen Dienstes Meran.
So fällt es Männern schwerer, bei Depression Hilfe zu suchen. Dies kann eine korrekte Diagnose erschweren oder verzögern. Schließlich wird auch beim Fachpersonal die Tendenz beobachtet, „typisch weibliche“ oder „typisch männliche“ Erkrankungen häufiger beim entsprechenden Geschlecht zu diagnostizieren.
Weichen für spätere psychische Störungen werden bereits im Entwicklungsalter gestellt
Die Primaria der Kinder- und Jugendpsychiatrie Meran Donatella Arcangeli ging auf die verschiedenen psychischen Störungen im Entwicklungsalter ein. Dabei wies sie auch auf die oft unterschätzten Auswirkungen einer zu frühen und häufigen Nutzung digitaler Medien durch Kinder und Jugendliche auf die Entwicklung des Gehirns hin. Eine Berücksichtigung der Gender-Unterschiede bei Präventionsprogrammen forderte Carla Comacchio, Fachärztin für Psychiatrie und Dozentin an der Universität Verona.
Es brauche einen differenzierten Ansatz bei Vorbeugungsprogrammen wie jenen gegen Missbrauch im Kindesalter oder häusliche Gewalt oder für die psychische Gesundheit in Schwangerschaft und nach der Geburt. Sigrid Lun, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie am Zentrum für psychische Gesundheit Brixen, befasste sich mit der Problematik der konstant hohen Anzahl an Femiziden.
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