Die Stille im Kreißsaal
Fast jede sechste Schwangerschaft endet mit einem Kindsverlust. Dennoch sind Fehlgeburten und „Stille Geburten“ noch vielfach ein Tabuthema.
Der 15. Oktober ist der Welttag der „Sternenkinder“. Unter dem Begriff „Sternenkinder“ werden jene Kinder verstanden, die vor, während oder nach einer Geburt sterben. Fehlgeburten und „Stille Geburten“ sind für betroffene Eltern ein Trauma und oft auch ein Tabu. Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen will Südtirols Bevölkerung anlässlich des Tages der „Sternenkinder“ für dieses Thema sensibilisieren.
Unterschiede zwischen Fehlgeburt und „Stiller Geburt“
Nicht immer sind die Unterschiede zwischen einer Fehlgeburt und einer „Stillen Geburt“ bekannt.
„Eine Fehlgeburt – gemeinhin auch als Schwangerschaftsverlust bezeichnet – ereignet sich in der frühen Schwangerschaft. Von einer ,Stillen Geburt’ sprechen wir hingegen in der späten Schwangerschaft – in der Regel ca. ab der 24. Woche – bzw. während der Geburt“, erklärt Barbara Plagg, Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health des Universitären Ausbildungszentrums für Gesundheitsberufe Claudiana Bozen.
Plagg empfiehlt, den Ausdruck „Totgeburt“ zu vermeiden, da er auf Betroffene befremdlich wirken und Schuldgefühle auslösen kann.
Der Begriff „Stille Geburt“ drückt hingegen auf sensible Weise aus, was geschieht, wenn ein Kind tot geboren wird: Es wird nach der Entbindung still bleiben im Kreißsaal.
Gründe für Fehlgeburten und „Stille Geburten“
Im Einzelfall können die Gründe, die zu einer Fehlgeburt führen, nur schwer bis gar nicht festgestellt werden.
Eine Fehlgeburt könne jede schwangere Frau treffen, die Gründe seien zumeist unspezifisch, sagt Barbara Plagg. „Risikofaktoren hierfür sind beispielsweise Defekte des Erbgutes oder der Chromosomen, Fehlbildungen, Plazenta- und Stoffwechselstörungen, Infektionen oder eine Gebärmutterhals- schwäche“, legt Plagg dar.
„Stille Geburten“ können verschiedene Gründe haben, so etwa Fehlbildungen der Chromosomen und des Erbgutes, Nabelschnurvorfälle, Ablösungen der Plazenta oder ein Schwangerschaftshochdruck (Präeklampsie).
Kann eine Fehlgeburt verhindert werden?
„Neben den Routineuntersuchungen zu Beginn und während der Schwangerschaft, gibt es keine besonderen Maßnahmen, um einen Spontanabort zu verhindern. Eine Fehlgeburt tritt bei 15 bis 20% der Schwangerschaften auf, in den meisten Fällen werden die Ursachen hierfür nicht erkannt“, erklärt Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.
Wenn eine Frau ein zweites Mal eine Fehlgeburt erleidet, die durch ein anatomisches Problem, durch Krankheiten der Mutter oder durch Störungen der Chromosomen beider Elternteile verursacht wurde, könne in seltenen Fällen eingegriffen werden, unterstreicht Piccoliori.
„Außer Einhaltung eines gesunden Lebensstils gibt es kein Patentrezept, eine Fehlgeburt zu vermeiden – und selbst ein gesunder Lebensstil ist keine Garantie, keine Fehlgeburt zu erleben“, sagt die Humanbiologin Barbara Plagg.
Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte
Bei der Diagnose eines Schwangerschaftsverlusts nehmen Hausärztinnen und Hausärzte in Südtirol und in Italien eine Nebenrolle ein, da sie – im Gegensatz zur Lage in vielen anderen europäischen Ländern – die schwangeren Frauen nicht direkt begleiten.
„Dort, wo ein:e Allgemeinmediziner:in über ein Ultraschallgerät verfügt, kann es durchaus vorkommen, dass gerade Hausärztinnen und Hausärzte die Diagnose stellen oder auf einen möglichen Schwangerschaftsverlust aufmerksam machen“, unterstreicht Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health.
„Uns Ärztinnen und Ärzten für Allgemeinmedizin kommt bei der Information und Begleitung der Frauen eine wichtige Rolle zu: Wir stellen häufig den ersten Bezugspunkt für alle Gesundheitsprobleme der Frauen dar und können ihnen dabei helfen, den Schmerz eines Kindsverlustes zu verarbeiten“, sagt Piccoliori, der seit 25 Jahren als Hausarzt in St. Christina in Gröden wirkt.
Hilfe und Beratung für Eltern von „Sternenkindern“
Eltern von „Sternenkindern“ können in Südtirol auf ein Beratungs- und Hilfsangebot zurückgreifen, das zwar gut funktioniere, aber ausbaufähig sei, sagt Barbara Plagg. Die Familienberatungsstelle „Lilith“ in Meran bietet regelmäßig Treffen von „Sternenkinder“-Eltern an, der Katholische Familienverband Südtirol (KFS) hat das Projekt „Sternenkinder – Bimbi stella“ lanciert. Auch „Sternenkindfotograf:innen“ gibt es seit einiger Zeit in Südtirol. Über Kindsverlust reden, Erinnerungen in Form von Fotos und kleinen Andenken schaffen, Beerdigungen ermöglichen und Mamis und Papis die Zeit geben, die sie zum Trauern brauchen – all das könne laut Plagg helfen.
„Wichtig ist, dass von der Umgebung der Verlust anerkannt wird und nicht mit Floskeln wie ,Es war ja noch nicht mal auf der Welt’ oder ,Ihr werdet sicher noch ein Baby bekommen’ versucht wird, den Schmerz herunterzuspielen. Das Gefühl, unverstanden und einsam zu sein, wird durch solche Floskeln nur größer“, so Barbara Plagg.
Schluss mit dem Tabu: Ein Film hilft, das Schweigen zu brechen
Fast jede sechste Schwangerschaft endet mit einem Kindsverlust.
Dennoch wird in unserer Gesellschaft selten offen darüber geredet, auch Medien setzen sich nur selten damit auseinander. Barbara Plagg und der Filmemacher Jörg Oschmann haben den Frühgeburten und „Stillen Geburten“ eine Filmdokumentation gewidmet. Im heurigen Sommer wurde sie von RAI Südtirol ausgestrahlt, sie kann jederzeit in der RAI-Mediathek abgerufen werden.
Die Doku mit dem Titel „Über Fehlgeburt und Stille Geburt“ lässt Betroffene und Expert:innen zu Wort kommen – und bricht somit mit der Tabuisierung des Themas. „Tabus bedeuten immer Einsamkeit. Und Einsamkeit ist nie hilfreich, einen Trauerprozess zu bewältigen“, betont der Filmemacher Jörg Oschmann. „Seit der Veröffentlichung unseres Filmes haben wir sehr viel Feedbackbekommen: Einerseits von Menschen, die selbst eine Fehlgeburt oder eine Stille Geburt erlitten haben und durch den Film das Gefühl bekommen haben, mit ihrem Verlust nicht allein zu sein. Andererseits haben uns Zuschriften von Menschen erreicht, die durch den Film eine kleine Handreichung bekommen haben, wie sie mit Betroffenen in ihrem Freundeskreis umgehen können“, erläutert Oschmann.
„Das Filmprojekt von Barbara Plagg und Jörg Oschmann vermittelt, dass mit Zuwendung und Verständnis für betroffene Eltern Trost und Entlastung möglich sind“, unterstreicht Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.
„Der Film trägt der Erkenntnis Rechnung, dass eine fachlich fundierte und leicht verständliche Gesundheitsinformation eine wichtige Säule der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ist. Das Gesundheitsportal unseres Institutes (https://www.institut-allgemeinmedizin.bz.it/) ist bemüht, allen Bürgerinnen und Bürgern Informationen zu verschiedenen Gesundheitsthemen anzubieten. Der Film ,Über Frühgeburt und Stille Geburt’, der vom Institut für Allgemeinmedizin unterstützt wurde, wertet dieses Informationsangebot zusätzlich auf“, schließt Engl.
Durch den Film zu einem Foto, das bleibt
„Eine der bewegendsten Rückmeldungen hat uns kürzlich erreicht“, erzählt Barbara Plagg. „Eine Sternenkindmami, die vor fünf Jahren ihr Söhnchen verloren hat, hat in der Verzweiflung des Verlusts und in der Überforderung der Situation kein Foto von ihrem Baby machen wollen. In letzter Zeit hat sie damit gehadert, kein Bild von ihrem Baby zu haben, denn ein Foto vom Baby ist meistens die einzige greifbare Erinnerung, die bleibt, und Zeugnis für die Existenz des kleinen Menschen – und das kann für den Trauerprozess wichtig sein. Durch unseren Film hat sie erfahren, dass das Personal im Krankenhaus Brixen immer Fotos macht. Sie hat dort nachgefragt – und nach fünf Jahren hat sie nun dank unseres Films ein Foto von ihrem Söhnchen bekommen“, so Plagg.
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