Wie wirtschaftlich ist die Kultur?
Peter Silbernagl, Direktor des Südtiroler Kulturinstituts, begrüßt die Studie „Die wirtschaftliche Bedeutung der Kultur in Südtirol“, wünscht sich aber eine differenziertere Diskussion über die Bedeutung des Kunst- und Kultursektors in Südtirol.
Tageszeitung: Herr Silbernagl, im März dieses Jahres veröffentlichte das Institut für Wirtschaftsforschung der Handelskammer Bozen einen Bericht zur wirtschaftlichen Bedeutung der Kultur in Südtirol. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?
Peter Silbernagl: Als Vertreter einer der traditionsreichsten Kultur- und Bildungseinrichtungen Südtirols begrüße ich diese Studie sehr und habe sie natürlich mit großem Interesse gelesen. Wir haben nun schwarz auf weiß, dass Kunst und Kultur einen beachtlichen wirtschaftlichen Wert für Südtirol haben. Das stärkt das Selbstbewusstsein der Kulturschaffenden und der Kultureinrichtungen, gibt ihnen wichtige Argumente an die Hand, auch bei den Gesprächen mit den Förderstellen der öffentlichen Hand.
Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?
Bemerkenswert finde ich, dass sich der Beschäftigungseffekt im Kultur- und Kreativbereich gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt und durch alle Bildungsniveaus geht. Die Zahlen sind selbstverständlich spannend. Die Studie arbeitet heraus, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft in Südtirol eine Wertschöpfung von etwas mehr als einer Milliarde Euro im Jahr 2019, also rund fünf Prozent der Gesamtwertschöpfung des Landes beiträgt. Mit rund 16.700 Beschäftigten deckt dieser Bereich 5,6 Prozent der Beschäftigung in Südtirol. Damit steht Südtirol an dritter Stelle nach dem Latium und der Lombardei.
Der ökonomische Fußabdruck der Kultur kann sich laut Studie sehen lassen. Dennoch hat sie einen schweren Stand und wird bei jeder Krise als erste für verzichtbar erklärt. Was läuft da schief?
Die Kulturbranche verfügt über keine starke Lobby und keinen übergeordneten Verband, wie es ihn etwa für die Landwirtschaft oder den Tourismus gibt. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Vielfalt und Unabhängigkeit für Kulturschaffende hohe Werte sind. Kulturschaffende sind auch gerne mal kritisch, querdenkend und unbequem. Oder wie Günter Eich es ausdrückte: der Sand im Getriebe, nicht das Öl. Nicht umsonst halten autoritäre Regime ihre Kulturschaffenden gerne unter Kontrolle, schlimmstenfalls mit Zensur und Berufsverbot. Aber gerade das zeigt ja, wofür sie gut und unverzichtbar sind.
Kann es sein, dass die Kulturveranstalter in einer Gesellschaft, in der alles emotionalisiert wird, den Wert der Kultur nicht emotional genug vermitteln? Was tut Peter Silbernagl, um die Herzen zu erreichen?
Ganz einfach: Ich wähle Produktionen aus, die mir selbst zu Herzen gehen, Stücke und Stoffe, die mich intensiv beschäftigt haben. Und wenn dem einen oder der anderen im Publikum dann nicht das Herz aufgeht, sondern eher die Galle überkocht, dann ist das ja auch eine Emotion, die zum Diskutieren anregt. Und genau das will Theater: nicht unbedingt gefallen, sondern Gefühle auslösen, zum Denken anregen, uns aus dem Alltagseinerlei herausholen. Theater bildet ja immer das Leben ab. Dabei geht es aber immer auch um Einfühlung. „Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“, hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal gesagt. Und der aktuelle Burgtheaterdirektor Martin Kušej hat in seinem letzthin erschienenen Buch kongenial ergänzt: Theater in seiner besten Form sei „Fühlen mit fremdem Herzen“.
Der Intendant des Deutschen Theater Berlin Ulrich Khuon hat jüngst in einem Interview mit der Tageszeitung gesagt, dass das Theater den Vorwurf des Elitären sehr ernst nehmen muss. Haben Sie diesen Vorwurf auch schon zu hören bekommen?
Jede Gesellschaft braucht Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Niveaus. So wie es in der Wissenschaft jene Diskursebene braucht, in der sich Fachleute miteinander unterhalten (sozusagen die Elite unter sich), und jene vereinfachte Ebene, wo Wissenschaftsthemen auf leichter verständliche oder auch unterhaltsame Art möglichst allen zugänglich gemacht wird, so haben auch in der Kultur unterschiedliche Niveaus ihre Berechtigung. Für das Theater bedeutet dies, dass Unterhaltung und Anspruchsvolles gleichermaßen Berechtigung haben. In den Theatereinführungen bemühen wir uns, auch Anspruchsvolles leichter zugänglich zu machen. Wenn mit elitär allerdings gemeint ist, dass nur Personen ausgewählter Gesellschaftsschichten ihren Weg ins Theater finden, dann haben wir dafür zu sorgen, dass dieses Klischee schnellstmöglich aus dem Weg geräumt wird.
Zurück zur Studie. Sie wirft alles in einen Topf, was irgendwie einem schöpferischen Akt entspringt. Schwächt das die Aussagekraft?
Das Südtiroler Kulturinstitut ist ein Verein. Wir organisieren Theatergastspiele, bieten Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, Tagungen. Zudem sind wir im Bildungsbereich aktiv. Unser Verein ist wie viele Kunst- und Kultureinrichtungen nicht gewinnorientiert. Gleichzeitig sind in der Studie ebenso Architekturbüros oder Werbeagenturen einbezogen. Da geht es in erster Linie um private, gewinnorientierte Unternehmen, die marktwirtschaftlichen Kriterien unterworfen sind. Für mich ist das ein bisschen wie Äpfel und Birnen in einem Topf.
Das Dilemma scheint in der Definition von Kultur- und Kreativwirtschaft zu liegen. Es gibt sehr unterschiedliche, worauf die Studie auch verweist.
Natürlich, das ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern als Anregung zur Differenzierung. Das Institut für Wirtschaftsforschung greift auf die Fondazione Symbola und Unioncamere zurück. Diese nimmt eine Kombination aus sektoraler und berufsgruppenorientierter Betrachtung vor. Herangezogen werden also Wirtschaftssektoren wie Architektur oder Kommunikation und die Tätigkeit von Einzelpersonen in Unternehmen bzw. Institutionen. Studien anderer Einrichtungen haben die sektorale Betrachtung gewählt – zum Beispiel die 2020 vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlichte Studie „Ökonomische Bedeutung der Kulturwirtschaft und ihre Betroffenheit in der Covid-19-Krise“. Auch der Monitoringbericht „Kultur- und Kreativwirtschaft“ in Deutschland fußt auf der sektoralen Betrachtung. Wir können die Studien in ihren Kennzahlen also nicht vergleichen.
Warum wäre eine Vergleichbarkeit der Studien Ihrer Ansicht nach wichtig?
Um ein differenzierteres Bild zu bekommen. Um zu schauen, wo Südtirol steht. Was läuft gut? Was könnte besser laufen? Wo sind wir vielleicht Vorreiter usw. Natürlich sehe ich auch die Problematiken des Vergleichs, aber ich denke, in einem vereinten Europa können gerade Regionen viel voneinander lernen. Die europäische Statistikbehörde Eurostat weist neben staatlichen auch regionale Indikatoren aus. Vielleicht noch nicht so detailliert, wie wir gerne hätten, aber einheitlich. Auf diese hat zum Beispiel die Wirtschaftskammer Salzburg in ihrem Standortreport zu den Salzburger Festspielen „Salzburger Festspiele. Motor für Wirtschaft, Exzellenz-Infusion für den Standort. Wertschöpfungsanalyse der Salzburger Festspiele“ zurückgegriffen.
Was hat denn die Salzburger Studie ergeben?
Die Studie aus dem Jahr 2016 hat die Region Salzburg mit 172 weiteren europäischen Regionen und den anderen österreichischen Bundesländern verglichen. Heraus kam, dass Salzburg zu den stärksten Wirtschaftsregionen Europas zählt und die Salzburger Festspiele als Weltmarke wesentlich zu dieser Wertschöpfung beitragen.
Südtirol hat aber keine Salzburger Festspiele, das heißt, die Kennzahlen würden sich markant unterscheiden, oder?
Natürlich geht es nicht um einen Vergleich mit den Salzburger Festspielen, sondern um Regionen, die auf kulturellem Gebiet ähnlich aufgestellt sind.
Ein wesentlicher Teil der Studie befasst sich mit den Effekten der Förderungen des Landes im Kulturbereich. Welchen Aspekt würden Sie hier besonders hervorheben?
Die Wertschöpfungseffekte, die über die Landesförderungen ausgelöst werden, betragen 187 Millionen allein in Südtirol, auf ganz Italien gesehen 206,4 Millionen Euro. Das sind wichtige Zahlen. Zu berücksichtigen wäre aber darüber hinaus, dass Kultureinrichtungen nicht nur vom Land Südtirol, sondern auch von Gemeinden und anderen öffentlichen Einrichtungen Unterstützung erfahren. Für eine aussagekräftige Folgestudie wäre es meiner Ansicht also wichtig, die Förderungen seitens der Gemeinden und anderer öffentlicher Körperschaften für den Kunst- und Kulturbereich einzubeziehen.
Was würden Sie sich wünschen?
Mir geht es darum, die Diskussion um die Bedeutung von Kunst und Kultur fortzuführen, mit stärkerer Berücksichtigung der Non-Profit-Organisationen. Wesentlich ist bei diesen nicht nur der wirtschaftliche, sondern der ideelle Wert. Also, was tragen Kunst und Kultur zum gesellschaftlichen Wohlergehen, zum Klima im Land bei. Es geht um die bildungs- und gesellschaftspolitische Bedeutung von Kunst und Kultur. Diese Aspekte sind mindestens ebenso wichtig und nicht in Geld aufzuwiegen.
Jeder Zehnte kann nicht lesen, war jüngst zu lesen. Was geht dem Theatermann bei so einer Meldung durch den Kopf?
Hier in Südtirol gibt es das Teatro la Ribalta, das erfolgreich aufzeigt, dass im Theater alle ihren Platz finden können, auch Menschen mit diversen Beeinträchtigungen. Wir vom Südtiroler Kulturinstitut versuchen mit unserem Kinder- und Jugendtheaterprogramm junge Menschen für die Theaterwelt zu begeistern und mögliche Hemmschwellen abzubauen. Die Initiativen unseres JUKIBUZ (Jugendkinderbuchzentrum) sowie unserer Sprachstelle sind ohnehin der Förderung von Lese- und Sprachkompetenz gewidmet. Das betrachten wir als fundamentalen Teil unseres kulturellen Bildungsauftrags.
Wenn Sie Kultur auf Ihrer persönlichen Skala von nebensächlich bis existenziell einsortieren müssten. Auf welcher Stufe steht sie?
Der Schriftsteller Honoré de Balzac hat es so ausgedrückt: „Ein Stück Schwarzbrot und ein Krug Wasser stillen den Hunger eines jeden Menschen; aber unsere Kultur hat die Gastronomie geschaffen.“ Kultur ist nichts anderes als sublimierte, sprich verfeinerte Natur. Natürlich tut es zur Not auch mal eine Suppe ohne Salz, aber dauerhaft führt das unweigerlich in die Geschmacklosigkeit, ins Einerlei. Ich bin für Buntheit und Vielfalt.
Ein Theatermensch wie Sie weiß, dass das Fressen vor der Moral kommt. Bekommen Sie die knapper werdenden öffentlichen und privaten Finanzen schon zu spüren?
Die gesamte Kulturbranche lebt davon, dass Kulturschaffende aus Begeisterung und nicht wegen der hohen Gehälter ihre Arbeit tun. Eine Debatte über faire Entlohnung in der Kultur hat gerade erst begonnen. Will heißen: Die Kultur hat seit jeher Erfahrung im Umgang mit knappen Mitteln. Wie sich die Teuerungen auf der einen Seite und das Sparen auf der anderen Seite auswirken werden, wird vermutlich erst das bevorstehende Jahr so richtig zeigen. Sollte die Kulturförderung dann nicht mehr ausreichen, löst man das Problem aber nur dadurch, dass man als übergreifende Allianz für eine nachhaltige, bessere Kulturförderung wirbt. Daher kann ich uns Kulturschaffenden nur empfehlen, uns nicht zu entsolidarisieren und um die größeren Stücke des Kuchens zu kämpfen, sondern sich dafür einzusetzen, dass der Kuchen insgesamt etwas größer wird.
Nach den nachtschwarzen Monaten der Pandemie kommt jetzt die Energiekrise. Kann das Waltherhaus die Stromrechnung noch bezahlen?
Der Energieverbrauch eines jeden Theaters ist erfahrungsgemäß sehr hoch. Auch deshalb bekommt das Waltherhaus nun eine Fotovoltaikanlage. Wir werden somit zu einer der ersten Energiegemeinschaften im Lande. Hinter dem Haus haben wir zudem eine Ladesäule für Elektroautos installiert: wir beteiligen uns also ganz aktiv an der Energiewende. Aber auch wenn das Waltherhaus künftig vielleicht etwas günstiger und nachhaltiger zu Strom kommen wird, das Problem der überhöhten Energiekosten, die alle zu spüren bekommen, bleibt. Hier ist die Politik gefordert. Im Übrigen machen uns die Heizkosten größere Sorgen: das Waltherhaus heizt – wie die meisten in Bozen – nämlich mit Gas.
Im Moment ist die größte Sorge der Theater der Zuschauerschwund. 50 ist das neue ausverkauft, heißt es. Mit welcher Auslastung rechnen Sie?
Bei lediglich 50% Auslastung wird mir, ehrlich gesagt, ganz angst und bang; das ist rein betriebswirtschaftlich schon eine Katastrophe. Doch die Klagen darüber, dass die Theater nicht so voll sind wie vor der Pandemie, ärgern mich. Wir sind zuständig dafür, die Leute wieder neugierig zu machen. Wir müssen uns also wieder um das Publikum bemühen. Wir sind doch alle der Meinung, dass das, was wir tun, einen Wert hat. Und wir wollen, dass eine Gesellschaft sich damit auseinandersetzt. Weil wir fest davon überzeugt sind, dass sie dadurch besser durch die Zeit kommt. Dieses Selbstverständnis sollten wir vermehrt an den Tag legen. Dieses Bewusstsein für den Wert unseres kulturellen Angebotes müssen wir wieder an das Publikum herantragen. Daran lohnt es immer wieder zu erinnern. In Zahlen ausgedrückt: Wir waren früher verwöhnt mit einer Auslastung von über 90 Prozent. Unser Ziel ist es, in dieser Spielzeit wieder auf mindestens 75, besser 80 Prozent zu kommen.
Ältere Abonnenten bleiben oft lieber auf der Couch sitzen und das jüngere Publikum scheint Schwellenangst vor dem Theater zu haben. Wie bringt man einen Klimademonstranten in Goethes Faust?
Faust wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das wollen die jungen Klimademonstranten doch auch. Sie wollen endlich Lösungen finden für drängende Probleme. Zeitgenössische Stücke, wie wir sie vielfach im Programm haben, sind vielleicht noch etwas näher dran an jenen Fragen, die junge Menschen sich heute stellen. Ein Stück wie „(R)Evolution“ von Yael Ronen und Dimitrij Schaad, das wir in einer Inszenierung des Münchner Metropoltheaters zeigen werden, befasst sich genau mit jenen Zukunftsszenarien, die im Zentrum aktueller Debatten stehen.
Hand aufs Herz. Haben Sie die Pandemie mit Balkonsingen oder mit Netflix überstanden?
Weder noch. Während viele Betriebe ihre Belegschaften in Lohnausgleich geschickt haben, waren wir immer aktiv, haben auch von zu Hause aus das getan, was getan werden konnte: Statt Live-Theatergastspielen gab es das „Heimspiel“ online, eine komplette Ausgabe der „Bücherwelten“ haben wir ins Netz verlegt, unser JUKIBUZ und unsere Sprachstelle haben innerhalb kürzester Zeit auf neue Online-Fortbildungen und machbare Initiativen umgestellt. Dass wir den Kontakt zu unserem Publikum – gerade auch über die neuen sozialen Netzwerke – über alle Lockdowns hinweg immer gehalten haben, kommt uns jetzt sehr zugute.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Geboren und wohnhaft in Bozen. Leidenschaftlich verheiratet und bemühter Vater zweier Söhne; verhaltener Besuch der Pflichtschulen in Bozen, intensive Studienzeiten in Verona und Innsbruck; von 1993 bis 1999: lehrreiche, zum Teil auch leitende Mitarbeit in Buchverlagen in München und Bozen. Seit 1999 aus Überzeugung beim Südtiroler Kulturinstitut und als gewählter Obmann-Stellvertreter achtsamer Geschäftsführer der Genossenschaft Waltherhaus; seit Juli 2017 Präsident der RAS (Rundfunkanstalt Südtirol). Ansonsten: „Ein Leben, das wenig gemächlich, aber höchst durchschnittlich verläuft.“ (Günter Kunert)
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