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„Putin ist verzweifelt“

Wladimir Putin hat die Teilmobilmachung angeordnet. Der Osteuropa-Experte Alexander Dubowy erklärt, ob nun tatsächlich eine weitere Eskalation im Krieg droht und wie sich Europa am besten verhalten sollte.

Tageszeitung: Herr Dubowy, Wladimir Putin hat gestern die Teilmobilmachung des russischen Heeres verkündet. Was bedeutet das nun?

Alexander Dubowy: Bislang hat Russland mehrere Versuche unternommen, eine freiwillige Mobilmachung zu erreichen. Diese freiwilligen Versuche sind alle gescheitert. Den Eliten in Russland bleibt also nur mehr die Mobilmachung als einziger Ausweg. Das ist Putins letzte Option. Es nennt sie zwar Teilmobilmachung, einen Unterschied zu einer Generalmobilmachung gibt es nicht. Die von Wladimir Putin verkündete „Teilmobilmachung“ erweist sich bereits nach wenigen Stunden als eine Generalmobilmachung auf Raten, deren Intensität auf Wunsch russischer Behörden jederzeit erhöht werden kann. Das russische Verteidigungsministerium wird nun festlegen, wie viele Personen einberufen werden müssen. Aktuell geht man von 300.000 Mann aus, diese Zahl könnte aber jeder Zeit nach oben korrigiert werden So werden – entgegen den offiziellen Zusicherungen des russischen Verteidigungsministeriums – aus vielen russischen Städten bereits erste Fälle der Einberufung von Absolventen der sogenannten Lehrstühle für Militärausbildung, die es in Russland an so gut wie jeder zivilen Universität gibt und welche über viele Jahre als adäquater Ersatz für den Grundwehrdienst angesehen wurden. Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass Russland aus Schwäche auf politische Eskalation setzt.

Wie gefährlich ist diese Teilmobilmachung?

Es kommt ganz darauf für wen. Die Mobilmachung ist in erster Linie für die russische Bevölkerung gefährlich. Wir haben gesehen, wie Russland kämpft, wie die Soldaten ausgebildet und ausgerüstet sind. Das Niveau der Ausrüstung und Ausbildung liegt deutlich unter dem, wovon der Westen in Vergangenheit ausgegangen ist. Wenn Russland nicht einmal im Stande ist, rund 200.000 Soldaten, die bisher in der Ukraine zum Einsatz kamen, adäquat auszurüsten und auszubilden, wie wird Moskau wohl mit weiteren 300.000 Mann umgehen. Wie will Russland diese Personen innerhalb kurzer Zeit ausrüsten? Abgesehen davon fehlt Russland die Zeit, denn aktuell laufen die ukrainischen Gegenoffensiven, gleichzeitig dauert eine angemessene Ausbildung zumindest einige Wochen. Russland schickt also kaum ausgebildete Personen an die Front. Sie erfüllen dann keine andere Funktion als bloßes Kanonenfutter zu sein. Die Mobilmachung ist insofern nichts anderes als ein Schritt der Verzweiflung.

Wie wird sich die Mobilmachung auf den Krieg auswirken?

Politisch hat Putin den Krieg bereits seit langem verloren. Russland ist international isoliert, die Beziehung zum Westen ist zerbrochen, aber auch die Beziehung zu nicht-westlichen Staaten ist auf einem schweren Stand. Beim letzten Treffen der Shanghai-Cooperation-Organisation wurde Wladimir Putin vom türkischen Staatspräsidenten Erdogan und anderen Staatschefs nahegelegt, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. Indiens-Premierminister hat ihm klar gesagt, dass unsere Epoche keine Ära des Krieges sein dürfe. Russland behauptet an der Speerspitze aller nicht-westlichen Staaten im Kampf um eine gerechtere Weltordnung zu stehen. Mittlerweile wird Moskau aber von führenden nicht-westlichen Staaten mit Nachdruck ersucht, nicht im Namen des kollektiven Nicht-Westens zu sprechen. Denn keiner möchte ein Verbündeter Moskaus sein.

Putin hat in seiner Rede einmal mehr mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Halten Sie es für möglich, dass diese eingesetzt werden?

Aktuell ist die Wahrscheinlichkeit dafür gering, Putin hat bereits mehrfach mit Atomwaffeneinsatz gedroht. Diese Entscheidung kann er aber nicht alleine treffen, sie muss von den russischen Eliten geteilt werden. Denn der Einsatz von Atomwaffen bedeutet in letzter Konsequenz einen atomaren Weltkrieg. Je schlechter es Russland im Krieg geht, desto mehr Unterstützung braucht Putin von Seiten der Eliten, um sein Regime zu stützen. Die Eliten tragen eine Entscheidung über den Atomwaffeneinsatz nicht mit. Putin setzt aber auf die Angst des Westens vor einem Atomkrieg, das ist ein politisches Erpressungsspiel mit dem Ziel, den Westen dazu zu bewegen, die Ukraine nicht mehr zu unterstützen.

Wie muss sich nun der Westen verhalten? Muss er sein Verhalten ändern?

Der Westen muss an den Sanktionen festhalten. Das ist unsere einzige Waffe. Es gibt nur drei Optionen: Entweder man hält an die Sanktionen fest, schickt Truppen in die Ukraine oder man gibt die Ukraine auf. Wenn man die Ukraine aufgibt, bedeutet das das Ende der NATO und der EU, wie wir sie kennen. Das wäre eine absolute Katastrophe. Gleichzeitig wollen wir aber auch nicht in den Krieg ziehen. Wir müssen also klar zeigen, dass die Erpressungsversuche Putins nicht erfolgreich sind. Wenn wir jetzt aufgeben, dann werden wir alles verlieren.

Russland hat außerdem erklärt, in Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk Referenden über einen Beitritt zu Russland durchführen zu wollen. Kann man dem Ergebnis dieser Referenden trauen?

Nein, die Ergebnisse der Referenden stehen ja bereits fest. Wenn am Montag angekündigt wird, dass die Abstimmung am Freitag stattfindet, ist das auch naheliegend. Die russischen Behörden versuchen nun nicht einmal mehr die Illusion der Legitimität zu wahren. Beim Krim-Referendum hat man wenigstens versucht so zu tun, als würde es eine Abstimmung geben. Dieses Mal versucht man es aber nicht einmal. Wir können also davon ausgehen, dass die Gebiete mit Sicherheit annektiert werden. Es sei denn der Kreml entscheidet sich im letzten Moment doch noch dagegen.

Wenn diese Gebiete aber weiter angegriffen werden, wird das als Angriff auf Russland gewertet?

Wladimir Putins eigentliche Zielsetzung ist durch die Androhung einer Eskalation den Westen dazu zu bewegen, die Ukraine zum Einlenken zu zwingen. Weil man die Ukraine nicht direkt erreicht, versucht man das über den Westen. Putin setzt darauf, dass zumindest einige westliche Staaten vor einer extremen Eskalation zurückschrecken werden. Putin hat keine Möglichkeit mehr, in direkte Verhandlungen zu treten, er würde enorm an Ansehen verlieren, daher will er die Ukraine über den Westen zu Verhandlungen zwingen.

Wie wird sich die Teilmobilmachung also letztendlich auf den Krieg und auf das Verhältnis mit Russland auswirken?

Am wahrscheinlichsten ist, dass Russland mit der Mobilmachung die ukrainische Gegenoffensive aufhalten kann und den Frontverlauf stabilisiert. Danach wird es zu einer Unterbrechung der Kampfhandlungen kommen, damit können beide Seiten Umgruppieren und Kräfte für neue Offensivoperationen sammeln.

Wie reagiert die russische Bevölkerung auf die Teilmobilmachung?

Bis zum jetzigen Zeitpunkt stand die Bevölkerung hinter Wladimir Putin, weil für die Mehrheit der Menschen der Krieg weit weg war, ähnlich wie der Syrien-Krieg. Das eigene Leben wurde nicht beeinflusst. Durch die Mobilmachung wird sich das ändern. Das ist also auch ein großes Risiko für den Kreml. Jetzt beeinflusst der Krieg nämlich den Alltag der Menschen. Sie könnten sich dagegen auflehnen, zumal sich durch die Sanktionen auch der Lebensstandard verschlechtert wird. Wir müssen also mit Protesten rechnen.

Interview: Markus Rufin

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