Was darf Kunst?
Nach den Polemiken um die Winnetou-Neuauflage steht auch die Frage im Raum, wie weit Kunst gehen darf. Was die Sprachkünstlerin Lene Morgenstern dazu sagt.
Tageszeitung: Frau Morgenstern, zuletzt wurde intensiv über das mittlerweile wieder zurückgezogene Winnetou-Kinderbuch diskutiert. Wie erleben Sie diese Diskussionen?
Lene Morgenstern: Ich erlebe die Winnetou-Diskussionen als spannend und angespannt und auch als nicht wenig verwunderlich. Kultur steht zur Diskussion. Man könnte aber auch sagen, sie steht im Rampenlicht. Das kommt nicht alle Tage vor.
Während die einen dem „Aus“ für Winnetou absolut zustimmen, finden andere diese Entscheidung überzogen. Was sagen Sie?
Sprechen wir über „den jungen Häuptling Winnetou“, über die Karl May-Romane oder über die Verfilmung mit Pierre Brice? Ich denke, dass man das gecancelte Buch gelesen und den Kinderfilm gesehen haben müsste (hab ich beides nicht), um sich ein Urteil dazu bilden zu können. Wenn wir jetzt aber von den präzisen Inhalten dieses Buches absehen, dann kann ich beiden Positionen etwas abgewinnen. Für das „Aus“ des Kinderbuches spricht, dass sich der Verlag dafür entscheiden hat. Er hat reflektiert und die umstrittenen Werke vom Markt genommen. Gegen das „Aus“ von Winnetou an und für sich spricht, dass es nicht die Figur des Winnetou ist, die kränkelt, es ist der Blick, der die Figur erschaffen hat, der nicht (mehr) passt.
Sind Bücher wie Winnetou nicht mehr zeitgemäß?
Karl May hat seine Winnetou-Bücher Ende des 19. Jh. geschrieben. Sie sind nicht mehr kompatibel mit den Werten, die wir heute leben wollen. Wir wollen eine Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt sind, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Kultur. Wir wollen Menschen nicht in Rassen einteilen. Wir wollen die einen nicht als die Kultivierten ansehen und die anderen als die Wilden. Aber: Wir wollen das Wilde dann doch, und ich meine damit das Abenteuer, das Unberechenbare, das andere, das uns wie einen Rausch ergreift, das Dionysische. Es ist paradox. Wir wollen beides: die schöne neue Welt und den unkontrollierbaren, ergreifenden Moment. Und es ist schon so, dass die Literatur und auch der Film geradezu perfekte Mittel sind, um den Menschen diese Sehnsüchte zu erfüllen.
Die Beschreibung, die Sprache, die Bilder und der Blickwinkel auf die Geschichte der Figur des Winnetou passen aber nicht mehr in unsere Zeit. Rassismus ist nicht okay, der kolonialistische Blick ist nicht okay. Das Heldentum, die tief gelebte Freundschaft, die Sehnsucht nach Natur, das Gute, das obsiegt, das wird bleiben – in dieser oder in anderen Figuren. Man muss das Kind also nicht gleich mit dem Bade ausschütten.
Das heißt?
Winnetou braucht Worte und Bilder, die ihm in unsere Zeit verhelfen. Winne-two sozusagen. Ein Update könnte ihm gut tun. Oder wir stellen die Bücher und Filme ins Museum, denn sie sind Bestandteil unseres Werdegangs. So haben wir – zu anderen Zeiten – die Welt gesehen.
Müsste man, wenn man diese Maßstäbe anwendet, auch über andere Bücher diskutieren?
Nicht nur über Bücher. Wir sind jetzt bei der Frage: Wer darf was verbieten und warum? Die Kritik an der kulturellen Aneignung – um die es ja geht – hat eine Debatte erzeugt, die noch im Gange ist. Das ist ein wichtiger und spannender Prozess. Wohin er führt, wird sich erst noch zeigen. In Amerika wird die Debatte schon seit Jahren geführt. In Europa ist diese Debatte neu, manche sagen angeeignet und sprechen von Aneignung der Aneignung, das ist smart formuliert. Diskutieren (und handeln!) müsste man im Bereich Diskriminierung in der Realität.
Stehen der ständige Ruf nach mehr Freiheit und Eigenverantwortung nicht auch irgendwie in Konkurrenz mit der Kampagne gegen diese Neuauflage?
Es scheint da ein Dilemma zu geben: Wir leben in einer Zeit mit ganz viel Freiheit – so viele Freiheiten gab es noch nie. Und gleichzeitig legen wir uns selber in Ketten. Verbote hier, Verbote da. Verbotskultur. Das empfinden viele als unbehaglich. Die Sache ist nun die: Wenn wir die Freiheit als Freiheit für alle begreifen, dann ist es klar, dass wir uns trotz aller ersehnten Freiheit nicht gegenseitig auf die Füße steigen dürfen. D.h.: Völlige Freiheit ist Fiktion. In der Realität gibt es sie nicht, weil es sie nicht geben kann. Sie wird dennoch groß in die Welt gerufen, weil man Menschen damit ködern kann. Die Eigenverantwortung wäre eine gute Alternative zur Verbotskultur. Andere werden aber sagen: Verbote sind ein notwendiges Mittel aufgrund fehlender Eigenverantwortung.
Wann wird Kunst problematisch, bzw. wo muss man die Grenze ziehen?
Kunst ist frei. Das steht in der Verfassung. Kunst darf frei agieren. Dennoch wird Kunst gecancelt, z.B. wenn das Verlage so entscheiden. Jene, die für das Kunstwerk „gerade stehen müssen“ ziehen sehr wohl Grenzen, die sie nicht überschreiten wollen. Per se ist Kunst aber dennoch frei, vielleicht letztlich mal nicht veröffentlich oder weggesperrt, aber doch da. Eine Frage, die ich in diesem Zusammenhang zentral finde, ist diese: Haben wir es, wenn wir über Kunst sprechen, überhaupt immer mit Kunst zu tun? Wie viel Kunst ist drin im „jungen Häuptling Winnetou“? Wie viel Kunst ist drin in den Romanen von Karl May? Manches, das Kunst genannt wird, ist eigentlich Business. Und die Frage muss dann lauten: Was darf Business? Darf der Markt Kulturen missbrauchen und Menschen(rechte) verletzten, um damit Profit zu machen? Wir kennen die Antwort, wir kennen sie.
Aber kann und soll Kunst überhaupt „gerecht“ sein?
Würden wir in einer gerechten Welt leben, dann würde es die Kunst, die es heute gibt, gar nicht geben. Kunst darf und soll Fragen stellen, Kunst darf unbequem sein und auch provozieren. Kunst darf kritisch sein und übertreiben, sie darf auch ironisch sein, witzig, auch mal verstörend. Kunst darf natürlich auch versöhnend sein, sanft und herzerwärmend. Kunst darf ins Fiktionale gehen. Ins Eklektische. Ins Abstrakte. Kunst darf Winnetou-Figuren kreieren und handeln lassen. Kunst darf Dreadlocks haben. Kunst darf kleine grüne Frösche mit Bierkrug und Ei in den Gliedmaßen an ein Kreuz nageln und ins Museion stellen. Bei alledem wird Kunst aber in die Richtung schauen, von der ich oben gesprochen habe. Wir leben in einer Gesellschaft, die bestimmte Werte vertreten will. Kunst will, soll, muss und wird diese Werte verteidigen.
Interview: Lisi Lang
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Kommentare (5)
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gulli
Die Verblödung der Menschheit ist nicht mehr aufzuhalten!
robby
Lene sollte einmal das alte und das neue Testament lesen. Mehr Rassendiskriminierung ist kaum in einem Buch zu finden.
brutus
…du hast den Koran vergessen!
Auch da sind Ungläubige wie ich als „minderwertig‘ anzusehen!
placeboeffekt
Die Schneeflöckchen
Haben linkskomplexige Problömchen
Die Frage sollte doch eher lauten: was darf Zensur?
Eine pluralistische demokratische Gesellschaft sollte einen Winnetou aushalten können
Aber die berufsempörten in Deutschland scheinen viel Zeit und Muße bei der Hand zu haben um abstruse Behauptungen zu konstruieren
gerhard
Exzellenter Kommentar.