„Beruf hat sich verändert“
Raffaela Stocker war knapp 40 Jahre lang Hausärztin im Vinschgau, nun ist sie in Pension. Im Interview spricht sie über ihren Beruf im Wandel der Zeit – und über ihren prominentesten Patienten Michael Jackson.
Tageszeitung: Frau Dr. Stocker, Sie sind über Umwege zum Medizinstudium gekommen. Wie hat sich das ergeben?
Raffaela Stocker: Die menschliche Anatomie hat mich schon als Jugendliche interessiert und es war eigentlich seit jeher mein Wunsch Ärztin zu werden. Allerdings war das damals für eine Frau nicht so einfach. Während mein Bruder Josef – er ist ebenfalls Hausarzt – gleich diesen Weg einschlug, war es für mich zunächst nicht möglich. Meine Eltern meinten, dass sich das lange Studium für ein Mädchen nicht rentiere, da ich sowieso heiraten und eine Familie gründen würde. Also besuchte ich die Frauenoberschule in Meran und absolvierte anschließend von 1973 bis 1976 eine Physiotherapie-Ausbildung in Wien. Erst anschließend durfte ich für Medizin inskribieren. Ich schloss das Studium 1982 ab.
Die längste Zeit Ihres Berufsleben haben Sie in der Gemeinde Stilfs verbracht. Was ist Ihnen davon in Erinnerung geblieben?
Ich kam 1984 nach Stilfs, wo ich 27 Jahre lang blieb. 2011, als Dr. Brugger in Mals in Pension ging, übersiedelte ich in die Gemeinschaftspraxis meines Bruders, der drei Jahre jünger ist und heute noch dort Dienst tut. Die Anfänge waren eine sehr intensive Zeit. Ich war die einzige Hausärztin in Stilfs und für ein großes Einzugsgebiet zuständig, das neben dem Hauptort auch Gomagoi, Sulden, Trafoi, die Stilfser Höfe und im Sommer auch das Stilfser Joch umfasste. Als Hausärztin musste ich 24 Stunden Bereitschaftsdienst gewährleisten, außer an den Wochenenden, da wechelsten wir Vinschger Hausärzte uns ab. Da stand jeweils nur ein Hausarzt von Reschen bis Eyrs im Einsatz, das ist heute noch so.
Wie viele Patienten hatten Sie zu betreuen?
Die Einwohnerzahl war mit etwa 1000 überschaubar, allerdings kamen im Sommer die etwa 2000 Gästebetten und die etwa 500 Mitarbeiter der Hotelbetriebe dazu und ich hatte große Entfernungen zurückzulegen, denn einige der Höfe lagen am Ende der Welt. Und ich war auch für die Notfälle und die Bergtoten zuständig.
Sie waren auch für die Notfälle zuständig?
Ja, denn das Krankenhaus in Schlanders liegt 38 Kilometer entfernt und die Notarzttätigkeit mit Rettungshubschrauber usw. war damals noch nicht so ausgebaut wie heute. Ich war als Hausärztin bei sämtlichen Notfällen die erste Ansprechperson und musste bei jedem Wetter – egal ob Schneefall oder Lawinengefahr – ausrücken. Dafür wurden wir Hausärzte eigens ausgebildet und wir wurden mit den für die Erstversorgung notwendigen Geräten ausgestattet.
Der Hausärztemangel ist heute ein großes Problem. Den gab es damals noch nicht?
Nein, es waren ausreichend Hausärzte da. Wir mussten einen Wettbewerb machen und wurden anschließend einer Gemeinde zugeteilt.
Warum gibt es aus Ihrer Sicht heute so wenige Hausärzte?
Das ist eine schwierige Frage. Das Problem gibt es schon seit 10 Jahren und wird so schnell nicht behoben werden, zumal weitere Hausärzte aus geburtenstarken Jahrgängen demnächst in Pension gehen. Ich denke, dass der Mangel viel mit den Veränderungen des Berufs zusammenhängt. Die ersten Jahre als Hausärztin war ich Medizinerin, zum Schluss reine Bürokraft. Die nichtärztliche Tätigkeit und die Bürokratie haben überhand genommen, für die Patienten blieb zuletzt kaum Zeit. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde mit Corona erreicht.
Weitere Gründe?
Wir sind Freiberufler, haben keinen Anspruch auf Mutterschaft und Ferien. Wollen wir in Urlaub gehen, müssen wir selbst für eine Vertretung sorgen. Das war immer schon so, dieses Gefühl, angebunden zu sein schreckt heute aber viele ab.
Wie könnte man dem Mangel entgegenwirken?
Die fehlenden Studienplätze sind ein großes Manko. Ich kenne mehrere Fälle von Jugendlichen, die keinen Studienplatz erhalten haben und auf den Osten ausgewichen sind. Aber wenn die Studierenden erstmal so weit sind, dann kommen sie nur noch schwer zurück. Zudem sind gerade wir im Vinschgau Grenzgebiet, viele machen ihren Facharzt in Österreich oder der Schweiz, wo es übrigens auch viel weniger Bürokratie gibt. Sie bleiben dort.
Sie hatten in Ihrem langen Berufsleben auch einen sehr prominenten Patienten: Michael Jackson. Wie kam es dazu?
Das war im Jahr 2001. Michael Jackson hielt sich in Sulden auf. Er war Gast im Feriendomizil von Jürgen Todenhöfer, dem deutschen Politiker und Buchautor, der damals im Vorstand des Burda-Konzerns saß. Es ging darum, den Vertrag für ein Musikalbum zu unterschreiben und Jackson hatte sich gewünscht, dass er einige Tage an einem Ort verbringen durfte, wo er sich frei bewegen kann. Er kam direkt von einer Benefizveranstaltung aus London, wo er sich eine Knöchelfraktur zugezogen hatte. Sein Leibarzt war vorher zurück in die USA geflogen, weswegen ich gerufen wurde. Er war sehr nett, etwas wehleidig vielleicht, wie es halt die Männer so sind (schmunzelt).
Es kamen immer wieder Zweifel auf, ob das damals wirklich Michael Jackson oder doch nur ein Gag war?
Nein, das war kein Gag. Es war Michael Jackson, das kann ich bestätigen.
Was hat Sie an Ihrer Arbeit am meisten gefreut?
Dass es mir gelungen ist, viele meiner Patienten in ihrer Umgebung zu versorgen. Ich arbeitete oft in abgelegenen Gegenden auf Höfen, viele Patienten wollten nicht ins Krankenhaus gebracht werden. Vor allem Pallatiativpatienten waren sehr dankbar dafür, wenn sie zuhause bleiben durften.
Seit einem Monat sind Sie in Rente. Wie muss man sich das vorstellen: Kann man das Arzt einfach die Praxis zusperren und sich verabschieden, oder sprechen einen die Patienten immer noch an?
Ich muss sagen, dass mein Abgang weder für mich noch für meine Patienten optimal verlaufen ist. Der Sanitätsbetrieb hat keinen Nachfolger für mich finden können. Derzeit kommt zweimal wöchentlich eine Vertretung nach Mals, das reicht jedoch nicht aus und viele Patienten wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Sie rufen mich weiterhin an und ich versuche, sie so gut es telefonisch zu beraten. Ich fühle mich da irgendwie in der Pflicht und nehme jeden Anruf entgegen.
Sie haben fast schon ein schlechtes Gewissen, in Pension gegangen zu sein?
Das auch wieder nicht. Ich bin jetzt 68, ich denke, da kann steht es mir zu, es gut sein zu lassen. Ich werde künftig lediglich noch meinem Bruder aushelfen, wenn er mich als Vertretung braucht.
Wie viele Patienten betreuten Sie zuletzt in Mals?
Anfangs 1.500, als der Arzt von Taufers in Rente ging, kamen noch einmal 500 dazu. Zudem war ich auch die Hausärztin für einen Teil der Heimgäste im Malser Altersheim.
Kennt man denn als Hausarzt so viele Patienten persönlich und kann sich ihre Krankengeschichte merken?
Mit den Namen ist es manchmal etwas schwierig, vor allem wenn die Patienten nur selten betreut werden mussten. Aber dafür gibt es ja die Karteikarten, wo jeder Fall dokumentiert wird.
Ihre Pläne für den Ruhestand?
Es haben sich einige Bücher angesammelt, die ich in Ruhe lesen werde. Zudem spiele ich Golf, ich gehe gern zum Wandern und Skifahren. Kurzum: Ich werde jetzt all das nachholen, was in den letzten Jahren zu kurz gekommen ist.
Interview: Karin Gamper
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Kommentare (2)
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nochasupergscheiter
Die Politiker genießen die von uns bezahlte Pflegeversicherung die ihnen Zugang zu den teuren Privatkliniken gewährt, und was mit denen passiert, die eigentlich den ganzen scheiß, einschließlich ihrer Gehälter zahlen, ist ihnen scheißegal…
bernhart
Frau Raffaela wünsche Ihnwn viel Glück und noch ein langes Leben, Sie waren eine gute Ärztin.