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Der Winnetou-Wirbel

Nach heftiger Kritik hat der Ravensburger-Verlag mehrere Winnetou-Kinderbücher zurückgezogen. Warum die Anti-Rassismus-Trainerin Sonja Cimadom diese Entscheidung befürwortet. 

Tageszeitung: Frau Cimadom, der Ravensburger-Verlag hat nach heftiger Kritik mehrere Winnetou-Titel aus dem Programm genommen. Das Echo ist geteilt. Was sagen Sie zu dieser Entscheidung?

Sonja Cimadom (Aktivistin und Anti-Rassismus-Trainerin): Ich finde sie absolut richtig und finde es wichtig, dass endlich auch derartige Schritte gemacht werden. Ich bezweifle zwar, dass sich der Verlag vor der Veröffentlichung keine Gedanken über diese Fragen gemacht hat, weil man leider auch von anderen großen Unternehmen immer wieder derartige Fehltritte hört, für welche sie sich dann öffentlich entschuldigen und so tun, als hätten sie das nicht gewusst – aber Fakt ist, dass gerade große Unternehmen oder Verlagshäuser auch von diesen Polemiken profitieren. Dieser Diskurs ist ja nicht neu und da stellt sich mir schon die Frage, warum man überhaupt eine Neuauflage vornimmt.

Auf der anderen Seite stehen jene, die diesen Rückzieher überzogen finden, weil es sich um eine fiktive Geschichte handelt, angelehnt an die Werke von Karl May.

Das lasse ich als Argument nicht gelten – ich kritisiere auch die Winnetou-Bücher von Karl May, unabhängig von dieser Neuauflage. Diese Bücher sind wahnsinnig stereotyp und reproduzieren ein Klischee aus einer absolut weiß-europäischen Perspektive, sie verschleiern komplett die Kolonialgeschichte und Ausrottung indigener Menschen in Amerika und denken hier überhaupt nicht mit. Diese Bücher sind absolut nichts, was ich meinen Kindern näher bringen will – dafür gibt es viel realitätsnähere Werke. Wenn wir über indigene Menschen heute in Amerika reden, dann leben diese komplett anders, als in diesen Büchern geschildert wird und auch der historische Kontext stimmt nicht.

Genau das wäre doch ein Argument für die Bücher, dass es sich um eine komplett fiktive Erzählung handelt…

Aber warum sind sie dann in unserem kulturellen Sprachraum so relevant? Warum kann man, eben weil es fiktive Erzählungen ist, nicht einfach drauf verzichten? Kindern ist überhaupt nicht klar, wie erfunden diese Erzählungen sind – vielen Lehrpersonen ist das nicht einmal klar. Und wenn man sich die aktuellen Sachbücher über Native Americans in Bibliotheken anschaut, dann sind diese den Karl May-Romanen oft sehr ähnlich, es wird so viel (Un)Wissen vermischt, dass man nicht so klar sagen kann, was fiktiv ist. Es gibt sogar Sachbücher, die dieses Bild von Karl May reproduzieren.

Als ehemalige oew-Bildungsreferentin und Bibliothekarin haben Sie sich schon oft mit dem Thema kulturelle Aneignung befasst. Sehen Sie auch andere Bücher kritisch? Sind vor allem Kinderbücher problematisch? 

Es werden sicher auch in Erwachsenenbüchern Stereotype unreflektiert reproduziert, aber ich finde, das hat nicht die gleiche flächendeckende Wirkung wie bei Kinderbüchern. Bei Pippi Langstrumpf ist der Papa auch nicht nur König der Südsee, sondern Kolonialismus und Rassismus ziehen sich durch die Bücher durch, dazu kommt die Kritik aus feministischer Perspektive mit der wirklich starken Pippi im Gegensatz zur schwachen und sehr ängstlichen Annika. Das sind grundsätzlich keine Bücher, die ich Kindern vorlesen möchte.

Über kulturelle Aneignung wird seit Jahren heftig diskutiert: Darf man sich zu Fasching als „Indianer“ verkleiden? Oder: Ist es ok, wenn weiße Musiker Dreadlocks tragen? Wie schmal ist der Grad zwischen kultureller Freiheit und kultureller Aneignung? 

Für mich ist das kein schmaler Grad sondern eine recht breite Klippe. Ich bin es als weiße Person einfach nicht gewohnt, mich hinterfragen zu müssen – nach dem Motto: alles, was ich als weißer Mensch für richtig finde, ist grundsätzlich in Ordnung. Das hat viel mit Macht und dem System, in dem wir leben zu tun. Aber ich glaube, wir dürfen lernen, die Stimmen von Menschen zu hören, die nicht-weiß sind. Und das bedeutet für uns, dass wir gewisse Dinge auch wieder verlernen dürfen und es z.B. nicht in Ordnung ist, sich als Native Americans zu verkleiden – weil das keine Verkleidung sondern die Realität von Menschen ist.

Es gibt einen historischen Kontext hinter den Dreadlocks, und wenn ich mir als weißer Musiker einfach nur Dreadlocks mache, ohne diesen zu kennen, ohne Bewusstsein für die Macht und Ausbeutung, die damit zusammenhängen, dann ist das nicht richtig. Wenn man die Geschichte kennt, die dahinter steht und sich dann bewusst für Dreadlocks entscheidet, dann ist das etwas anderes als wenn man einfach nur die Frisur cool findet.

Aber wo zieht man die Grenze? 

Wenn sich jemand verletzt fühlt oder verletzt wird, dann ist klar die Grenze überschritten. Aber ich frage mich auch, warum wir als weiße Menschen so fest an diesen Dingen festhalten wollen – was ist unsere Angst davor es einfach zu lassen? Wenn wir Stereotype reproduzieren, tragen wir dazu bei, dass das System Rassismus weiterlebt. Das ist uns vermutlich nicht bewusst, da ich als weiße Person davon nicht betroffen bin sondern davon profitiere. Ich denke, dass das die meisten Menschen nicht möchten, also geht es ums Zuhörern, Hinschauen, Hinterfragen, Verlernen, neu Lernen und so gestalten, dass alle mitgedacht sind.

Interview: Lisi Lang

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