Musik ist meine Religion
Die gefeierte israelische Sopranistin Chen Reiss ist am Dienstag in der Sterzinger Pfarrkirche in Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ zu erleben. Ein Gespräch über Mahler, die Pandemie, den wachsenden Antisemitismus, ihren Auftritt vor dem Papst und die Berge.
Tageszeitung: Frau Chen Reiss, ich habe gelesen, dass Sie kaum auf der Welt schon Opernsängerin waren.
Chen Reiss: Meine Mutter erzählt, dass ich bei meiner Geburt so laut geschrien habe, dass der Arzt zu ihr sagte: Hier, nehmen Sie ihre Opernsängerin. Er hat mein Schicksal und meinen Lebensweg vorausgesehen.
Was bedeutet der Name Chen?
Chen bedeutet Anmut, auf Italienisch grazia.
Über Opernsängerinnen kursieren viele Klischees. Sie sind Divas, eitel, eingebildet und so fort. Welche stimmen?
Klischees stimmen nie, sie sind grundsätzlich falsch. Jede Person ist ein eigenes Universum und man kann nie von einer auf eine andere schließen. Ich finde, dass die Opernsängerinnen heute sehr bodenständig sind. Sie arbeiten hart und sehr diszipliniert. Ich weiß das von mir selbst und von meinen Freunden. Unser Leben ist nicht so glanzvoll wie es auf der Bühne ausschaut. Von außen betrachtet, wirkt es glamourös, aber dahinter stecken viele Stunden und Jahre an Arbeit und Proben. Außerdem besteht das Leben ja nicht nur aus Singen und Oper. Ich habe ja auch Kinder und einen Mann, also ich bin schwer beschäftigt mit vielen anderen Sachen.
Die Zeiten einer Maria Callas sind vorbei.
Ich weiß nicht, wie die Zeiten von Maria Callas waren. Damals war ich noch gar nicht auf der Welt, ich kenne wie alle nur Geschichten über diese Zeit. Ob sie wahr sind, weiß ich nicht. Wir wissen heutzutage ja nicht mehr, was die Wahrheit ist. Nicht in der Musik, nicht in der Politik, nicht im Leben. Wir wissen nur, was die Nachrichten melden oder was die Leute sagen, aber das ist nicht die Wahrheit. Maria Callas ist die Sängerin, die ich am meisten bewundere. Sie hat sich von ganz unten nach oben gearbeitet und ihr Leben war alles andere als einfach. Ich glaube aber nicht alle Geschichten, die über sie erzählt werden.
Wenn Sie vier Komponisten, lebende und tote, zum Essen zu sich nach Hause einladen dürften. Wer säße mit ihnen am Tisch?
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil es so viele gibt, die ich sehr schätze. Ich glaube, ich würde eine große Party machen und viele dazu einladen. Mahler wäre auf jeden Fall dabei. Erstens teilen wir den gleichen Geburtstag, ich bin wie er an einem 7. Juli geboren. Zweitens ist er eine wirklich interessante Persönlichkeit. Seine Beschäftigung mit dem Tod, mit dem Glauben, Fragen der Spiritualität finde ich sehr inspirierend. Mit ihm würde ich mich gerne unterhalten, aber auch mit Schubert und Mozart. Vor kurzem habe ich eine CD mit Liedern von Fanny Hensel veröffentlicht, auch mit ihr würde ich liebend gerne reden und mit Rossini würde ich gerne Pasta essen. Also es wäre eine ganze Liste von Komponisten und Komponistinnen, die ich einladen würde.
Von Mahler singen Sie in Sterzing die 2. Sinfonie, die Auferstehungssinfonie.
Ja, ein Werk von ungeheurem gedanklichem Reichtum und musikalischen Ideen. Ich glaube, es hat viel mit seiner Biographie und seinem Kampf um Anerkennung zu tun. „Sterben werd ich, um zu leben“ lautet eine Zeile darin. Seine Musik war ja nicht immer anerkannt und erfolgreich, aber er wusste, eines Tages würden seine Sinfonien so oft wie die von Beethoven aufgeführt werden. Und er hatte Recht, er musste nur 100 Jahre warten. Für Komponisten ist das ja eine Qual und eine Tragödie, dass sie den Erfolg häufig nicht mehr selbst erleben können. Denken Sie an den armen Mozart, der nicht einmal ein eigenes Grab bekommen hat. Heutzutage kennt ihn jeder. Das Gleiche gilt für Schubert.
Fühlen sie sich Mahler auch durch sein Judentum verbunden?
Ja, ich höre viel Jüdisches in seiner Musik. Mahler ist zwar vom Judentum zum Katholizismus konvertiert, aber bestimmte jüdische Elemente hat er nie abgelegt. Im Gegensatz etwa zu den zum Protestantismus konvertierten Felix Mendelsohn oder Fanny Hensel, deren Musik wirklich deutsche romantische Musik ist. Der Inhalt der Auferstehungssinfonie ist christlich, aber die Komposition ist eine Mischung der Religionen.
Sie haben 2014 bei der Weihnachtsmesse auch einmal vor dem Papst gesungen. Ein besonderes Erlebnis für eine Jüdin?
Das war wirklich ein Highlight meines Lebens, nicht nur meines musikalischen. Musik ist meine Religion, sie verbindet uns auf eine Art und Weise wie keine Religion das kann. Musik geht von Herz zu Herz und sie verbindet mich mit Gott. Wenn man Mozart hört spielt keine Rolle, ob man jüdischen oder christlichen Glaubens ist. Mir ist bewusst, dass das nicht für alle gilt, es gilt sogar nur für wenige.
Momentan erleben wir wachsenden Hass zwischen den Religionen und auch der antijüdische Hass nimmt wieder zu. Sind Sie pessimistisch, was die Zukunft angeht?
Die Welt ist momentan in einer schlimmen Situation. Ich bin kein pessimistischer Mensch, aber ich mache mir mehr Sorgen als noch vor kurzem. Ich bin in Israel geboren und wir haben hier alle zwei Jahre Krieg, aber die politische und ökonomische Instabilität wächst überall auf der Welt. Ich bin ja auch Mutter, das bedeutet, ich sorge mich nicht nur um meine Existenz, sondern auch um die meiner Kinder. Wenn die Menschen ins Konzert kommen, hoffe ich, dass die Musik ihnen für eine kurze Zeit etwas Trost und Hoffnung spendet. Einer der Gründe, warum ich Sängerin geworden bin, ist, dass ich die Menschen glücklich machen möchte, wenn auch nur für einige Stunden.
Haben Sie als Jüdin in Europa antisemitische Erfahrungen am eigenen Leib machen müssen?
Gewisse Bemerkungen, die mich verletzt haben, gab es schon früher, nicht erst in den letzten Jahren. Dass der Antisemitismus in den letzten Jahr aber stark zugenommen hat, ist ein Faktum. Immer, wenn es Krieg in unserer Region gibt, nimmt der Antisemitismus weltweit zu. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist sehr kompliziert, darüber möchte ich hier nicht sprechen, das würde den Rahmen des Gesprächs sprengen. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen sich genau informieren und sich nicht von Meinungen in den sozialen Medien aufhetzten lassen. Es herrscht Krieg in der Ukraine und das größte Problem überhaupt ist die Umwelt. Wir sind alle in Gefahr und müssen versuchen, in Frieden miteinander zu leben.
Krieg, Pandemie, Klimawandel, Umwelt – die Probleme der Welt sind enorm. Müssen Sie das alles vergessen, um zu Ihrer Stimme „voll silbrigem Glanz und Klarheit“ zu finden?
Wenn ich singe, bin ich in einer anderen Welt und ich hoffe, auch das Publikum. Die Probleme des Alltags und die weltweiten Konflikte sind dann weg. Probleme gab es ja immer auf der Welt. Das Leben meiner Großeltern war viel schwieriger als mein heutiges, das sollten wir nie vergessen. Der wirklich große Unterschied ist, dass wir heute durch die Medien pausenlos mit Nachrichten bombardiert werden. Das war vor 50 oder nicht einmal vor 10 Jahren noch anders. Ich empfinde das als sehr belastend und ich versuche mich davor zu schützen. Man muss nicht alles sofort wissen.
Die Welt braucht mehr Musik.
Ja, und Blumen.
Sie treten auf allen großen Opernbühnen der Welt auf. Gehen Sie auch mal in die Oper, wenn Sie nicht selbst singen?
Sehr oft. Wann immer ich Zeit habe, findet man mich in einem Konzert oder in der Oper. Während der Corona-Pandemie habe ich wirklich gelitten. Die ganzen Online-Angebote sind besser als nichts, aber sie sind kein Ersatz. Nichts kann einem das Erlebnis ersetzen, selbst in der Oper zu sitzen und zusammen mit anderen Menschen Musik zu erleben.
Kam Ihnen während der Pandemie mal der Gedanke, einen anderen Beruf zu ergreifen?
Ich habe angefangen, online Gesangsunterricht zu geben, weil es viele Anfragen gab. Außerdem habe ich zwei kleine Kinder und die haben mich zuhause voll beschäftigt. Allerdings war ich nicht sehr realistisch, was die Einschätzung der Dauer betrifft. Ich dachte in zwei Monaten stehe ich wieder auf der Bühne.
Am Dienstag kommender Woche treten Sie in der Sterzinger Pfarrkirche auf. Waren Sie schon einmal in Südtirol?
Ich bin schon mehrfach in Südtirol aufgetreten, aber noch nie in Sterzing. Ich liebe die Berge, ich habe sie im Sommer und im Winter gesehen. Ich beneide alle, die in dieser Ruhe und Schönheit leben. Leider kann ich nicht Ski fahren, in Israel fehlen dazu schlicht die Möglichkeiten.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Die vielfach gefeierte Sopranistin Chen Reiss verzaubert das Publikum „mit einer der vollkommensten Strauss-Stimmen, die man sich erträumen kann“ (Classical Source), „einer Stimme voll silbrigem Glanz und Klarheit“ (Bachtrack), „einem makellos entstehenden und verführerischen Klang gepaart mit großartigem musikalischem Können“ (Opera News, USA). Die Karriere der in Israel geborenen Sängerin startete im Ensemble der Bayerischen Staatsoper München unter Generalmusikdirektor Zubin Mehta; seit Jahren ist sie als Künstlerin mit Residenzvertrag eng mit der Wiener Staatsoper verbunden. Zahlreiche Engagements führten sie an das Royal Opera House Covent Garden, das Théâtre des Champs-Élysées, das Teatro alla Scala u.a. Sie tritt regelmäßig als Konzertsängerin auf und ist Gast bei den bedeutendsten Festivals wie etwa den Salzburger Festspielen, dem Schleswig-Holstein Musik Festival, dem Ludwigsburg Festival, dem Rheingau Musik Festival und dem Lucerne Festival sowie bei namhaften Orchestern wie den Wiener Philharmonikern, der Staatskapelle Berlin, dem Gewandhausorchester Leipzig, Concerto Köln, dem Orchestre de Paris u.a.
Mahlers Auferstehungs-Symphonie in Sterzing
Gustav Mahlers zweite Symphonie sollte jedes bekannte Format sprengen – und sie sollte sich mit den großen Sinnfragen auseinandersetzen: „Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß? Wir müssen diese Fragen in irgendeiner Weise lösen, wenn wir weiter leben sollen.“ – so der Komponist. Die zweite Symphonie, die auch als „Auferstehungssymphonie“ bezeichnet wird, ist ganz Ausdruck von Mahlers existenziellem Ringen – was sich in ihrer Form und ihrer überwältigenden Klanglichkeit nachvollziehen lässt.
Dieses musikalisches Großereignis für Soli, Chor und Orchester steht am 23. August um 20.00 Uhr in der Pfarrkirche von Sterzing auf dem Programm. Die Ausführenden sind von hoher Qualität: die vielfach gefeierte Sopranistin Chen Reiss, die das Publikum in den großen Konzertsälen verzaubert, die australische Mezzosopranistin Caitlin Hulcup, die u.a. in der Wiener Staatsoper, im Théâtre des Champs-Elysees und bei den BBC Proms auftritt, der ausgezeichnete Coro del Friuli Venezia Giulia. Die Junge Philharmonie Wien ist Österreichs „Elite-Nachwuchsorchester“ (ORF-Kultur), das die besten österreichischen NachwuchsmusikerInnen im Alter von 17 bis 27 Jahren vereinigt, die Leitung hat Michael Lessky inne.
Veranstalter ist die Brixner Initiative Musik und Kirche. (www.musik-kirche.it) Kartenvorverkauf: Tourismusbüros von Sterzing (tel 0472 765325, [email protected]) und Brixen (tel 0472 275252, [email protected])
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Kommentare (1)
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dn
Freue mich für sie, Musik als Religion, da bin ich dabei.