Fort- und Rückschritte der Autonomie
Nach der Streitbeilegung zwischen Italien und Österreich im Jänner 1992 befürchteten Skeptiker, dass es einen Stillstand, ja mögliche Rückschläge für die Südtiroler Autonomie geben könnte. Hat die Autonomie, im Besonderen nach der Verfassungsreform 2001, Fortschritte erzielt oder Rückschläge erleiden müssen? Mit dieser umstrittenen Frage setzte sich Oskar Peterlini bei der gemeinsamen Tagung von Professoren der Universitäten Bozen, Trient und Innsbruck, anlässlich des 50. Geburtsjahres des neuen Autonomiestatutes, auseinander.
Tageszeitung: Herr Peterlini, wie ist es der Südtiroler Autonomie seit der Streitbeilegung 1992 ergangen?
Oskar Peterlini: Es gab Fortschritte und Rückschläge! Besonders nach der Verfassungsreform von 2001 hat der römische Verfassungsgerichtshof, verschiedene Zuständigkeiten eingeschränkt. Auf der anderen Seite gingen ans Land viele neue Bereiche über, die weit über das Paket hinausreichen. Es gilt eine Bilanz zu ziehen!
Sie meinen Durchführungsbestimmungen gegen Einschränkungen abzuwägen?
Durchführungsbestimmungen gibt es nach der Streitbeilegung eine Vielzahl, viele rein technische, aber auch viele goldene. Aber darüber stehen, an der Spitze der Rechtsordnung, die Autonomie- und Verfassungsbestimmungen. Es genügt sich auf diese zu konzentrieren, sozusagen auf die Diamanten.
Wann gab es nach dem Paket erstmals „Diamanten“, die darüber hinausleuchten?
Im Jahre 2001 gab es eine erste Erweiterung des Autonomiestatutes (Vf-Gesetz 2/2001). Der Landtag wurde aufgewertet, statt der Wahlen zum Regionalrat, werden seitdem direkt die Landtage gewählt, die die Region bilden. Vorher waren die Landtage Unterorganisationen des Regionalrates. Erstmals wurden den Ladinern die Spitzenpositionen im Landtag und Regionalrat und in der Landes- und Regionalregierung eröffnet, die Ladiner und die deutschen Minderheiten auch im Trentino geschützt und gefördert und ein eigener Sitz für die Ladiner im Trentiner Landtag reserviert. Und das Wichtigste: Es gab es eine besondere Absicherung für das Statut!
Das Autonomiestatut wurde stärker abgesichert?
Ja, bis dahin war jede Änderung einem staatsweiten Referendum unterworfen, wenn im Parlament nur eine absolute und keine Zweidrittelmehrheit erreicht wurde. So war es auch bei der Genehmigung des neuen Autonomiestatutes 1971. Hätte nicht die damals starke kommunistische Partei dafür gestimmt, obwohl sie in der Opposition war, hätte über unsere Autonomie ganz Italien in einem Referendum abstimmen können. Bei dem Neid, der in Italien oft herrscht, ein Risiko, wenn nicht eine Katastrophe! Ein Referendum über unsere Autonomie ist seitdem ausgeschlossen.
Im Jahre 2001 gab es auch eine Reform der italienischen Verfassung!
Diese Reform (Vf-Gesetz 3/2001) stärkte die ordentliche Regionen, gab ihnen eine ganze Reihe von neunen Befugnissen, eigene Statuten, Finanzautonomie, schuf die staatliche Kontrolle der Regionalgesetze ab, eröffnete den Regionen die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und der Europäischen Union. Bis dahin war die Außenpolitik „Heiligtum“ des Staates. Alle Zuständigkeiten, die nicht ausdrücklich dem Staat vorbehalten wurden, stehen den Regionen zu.
Wie hat sich diese auf Südtirol ausgewirkt?
Mit einer s.g. Besserstellungsklausel (Art. 10) gingen die darin enthaltenen, weitergehenden Formen der Autonomie auch auf die Sonderautonomien über, das heißt, was die ordentlichen Regionen mehr an Autonomie erhielten, gilt auch für Südtirol. Viele neue konkurrierenden Zuständigkeiten, die der Staat den Regionen gewährte, stehen nicht im Autonomiestatut, sondern gehen weit darüber hinaus: Internationale Beziehungen und ihre Beziehungen zur EU; Außenhandel; Berufe; wissenschaftliche und technologische Forschung; Ernährung; Zivilschutz; Häfen und Zivilflughäfen; große Verkehrs- und Schifffahrtsnetze; Transport und gesamtstaatliche Verteilung von Energie; Koordinierung der öffentlichen Finanzen und des Steuersystems. Diese Zuständigkeiten stehen bis heute nicht im Statut, stehen aber aufgrund der Verfassungsreform (Nr. 3/2001) dem Land zu, sie leuchten sozusagen ins Statut hinein.
Und Zuständigkeiten, die Südtirol schon hatte, aber schwächer waren?
Diese rückten auch für Südtirol auf die höhere Ebene, schaffen also einen größeren Freiraum für die Autonomie: z.B. die Zusatz- und Ergänzungsvorsorge…
Mit der Sie die Zusatzrenten, PensPlan, Laborfonds, Plurifonds aufgebaut haben?
Ja genau, die gesamte Zusatzvorsorge rückte von ergänzend zu konkurrierend auf. Manche Zuständigkeiten wurden sogar primär, müssen sich also nicht mehr an die Grundsätze der Staatsgesetze halten: die Arbeitsvermittlung; die Ortspolizei in Stadt und Land, der Handel, da nur mehr der Außenhandel konkurrierend ist; das Lehrlingswesen, Arbeitsbücher und Berufsbezeichnungen der Arbeiter, öffentliche Vorführungen und öffentliche Betriebe, außer der öffentlichen Sicherheit, Lizenzen (außer für Bereiche des Staates). Damit kann das Land in diesen Bereichen wesentlich autonomer handeln als zuvor.
Und was ist mit den Grenzen der Gesetzgebung?
Diese wurden für die ordentlichen Regionen auf drei reduziert, sie müssen sich bei ihren Gesetzen nur an die Verfassung, die EU- und die internationalen Verpflichtungen halten. Die nationalen Interessen und die Grundsätze der Rechtsordnung und der Reformen fielen für sie weg.
Und für Südtirol?
Für den VfGH ging das alles zu weit, sodass er – soweit er konnte – einige Bereiche eingrenzte. Er konnte zwar nicht umhin, die gelockerten Grenzen auch den autonomen Regionen und Provinzen zuzugestehen, aber nur für die neuen Zuständigkeiten, also für das was wir durch die Verfassungsreform dazubekommen haben. Für unsere „alten“ Zuständigkeiten gelten noch, so bestimmte er, die alten Grenzen wie nationale Interessen und staatliche Reformen.
Der Verfassungsgerichtshof schränkte die Reform also ein?
Ja, erheblich und beschnitt damit auch einige unserer Zuständigkeiten. Obwohl die Vf-Reform, Regionen Provinzen und Staat auf die gleiche Ebene stellt (Art. 114), teilte er dem Staat eine übergeordnete Rolle zu. In der Folge legte er fest, dass Staats-Zuständigkeiten als transversale Bereiche im Konflikt überwiegen: z.B. Umweltschutz gegenüber Jagd, Einwanderung gegenüber Arbeit, Vertragswesen gegenüber öffentlichen Arbeiten. Auch „erfand“ er s.g. implizite staatliche Zuständigkeiten, z.B. die Begrenzung der Aufnahmen im öffentlichen Dienst und die Mobilität: Nur der Staat könne Normen erlassen, die (im Interesse der Einheitlichkeit) für alle Verwaltungen gelten. Bei Überwiegen der Zuständigkeit des Staates könne die Besserstellungsklausel nicht angewandt werden.
Der Verfassungsgerichtshof also autonomiefeindlich?
Italien ist nicht durch föderalen Zusammenschluss wie Deutschland entstanden, hat keine föderale Tradition, deshalb gibt es immer wieder Gegenspieler zu regionalen Tendenzen, so z.B. auch die, Gott sei Dank, versenkte Verfassungsreform von Renzi. Aber man muss unterscheiden: Beim Minderheiten- und Sprachenschutz hat der Verfassungsgerichtshof immer die Rechte bekräftigt. Und wenn er ein Landesgesetz als rechtswidrig erklärt, weil es demokratische Grundsätze verletzt, ist das seine Aufgabe. So war es neulich für die Ernennung der Primare. Öffentliche Stellen müssen aufgrund von Wettbewerben den Besten zukommen und nicht durch politische Berufung.
In welchen Bereichen gab es nach der Streitbeilegung noch Fortschritte?
Eine wichtige verfassungsrelevante Erweiterungen der Autonomie erfolgte schon ein Jahr danach (Vf-Gesetz 2/1993). Die regionale Zuständigkeit für örtliche Körperschaften wurde von konkurrierend zu primär, also können wir unsere Gemeinden viel autonomer regeln. Die Zuständigkeit des Landes im Bereich der Lokalfinanzen wurde ebenso von konkurrierend zu primär (Gesetz 147/2013), ein erweitertes, wichtiges Paket für die Ladiner folgte erst kürzlich (Vf-Gesetz 1/2017).
Und wie wirkt sich die Reduzierung des Parlamentes auf Südtirol aus?
Für die Abgeordneten wird es, wie auf Staatsebene eine Reduzierung von einem Drittel geben, zwei Wahlkreise je für Bozen und Trient und drei Abgeordnete in der Region, die im Proporz gewählt werden. Im Senat hingegen ist Südtirol privilegiert. Das Vf-Gesetz (1/2020) weitete die Mindestvertretung von Senatoren (bisher nur für Regionen) auf die autonomen Provinzen aus. Damit hat Südtirol weiterhin drei Senatoren, für je 180.000 Einwohner einen, während es im Staatsgebiet 300.000 braucht.
Welche Bilanz können Sie abschließend ziehen?
Die wichtigsten Errungenschaften nach dem Paketabschluss sind (neben einer Reihe von Zuständigkeiten) vor allem die Öffnung der Autonomie für internationale Zusammenarbeit und zur EU und der Wegfall der präventiven Kontrolle der Landesgesetze. Landesgesetze müssten laut Text des Autonomiestatutes (Art. 55) dem Regierungskommissar vorgelegt werden, die Regierung kann sie zurücksenden, der Landtag muss sie korrigieren oder beharren, der Staat kann sie sogar vors Parlament bringen. Aufgrund der Vf-Reform treten nun Landesgesetze ungehindert sofort in Kraft. Zu diesen „Diamanten“ (um beim Vergleich zu bleiben) auf dieser höchsten verfassungsrechtlicher Ebene kommen ca. 50 Durchführungsbestimmungen, einige goldene, viele Delegierungen (Schule, Lehrer, Straßen, Universität, Rai Südtirol, Kataster, Gerichtsämter usw.) und Finanzbestimmungen, die übers Paket hinausgehen. Die Bilanz ist deshalb trotz einiger Abstriche des Verfassungsgerichtshofes eindeutig positiv.
Was bleibt zu tun?
Eine Reform und Erweiterung des zurückgebliebenen Autonomiestatutes ist mehr als fällig. Die Autonomie hat noch viel Luft nach oben. Das wäre ein eigenes Gespräch wert. Bevor allerdings das Paket im Parlament aufgeschnürt wird, ist es vordringlich, eine Klausel fürs Einvernehmen bei Änderungen zu finden.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Oskar Peterlini, 1950 in Bozen geboren, war von 1978 bis 1998 Abgeordneter im Südtiroler Landtag und Regionalrat Trentino-Südtirol sowie von 2001 bis 2013 Senator der Republik. Seit dem Jahre 2011 arbeitet er als Lehrbeauftragter an der Freien Universität Bozen. Er gilt als einer der Ideatoren und war seit 1989 Leiter von PensPlan, einem Institut für Zusatzrenten, das in der Region Trentino Südtirol eigene Pensionsfonds anbietet.
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Kommentare (2)
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artimar
Das heutige Referenzmodell Südtirol und jenes der Euregio (Di Maio) findet sich seit der Streitbeilegungserklärung (1992) nun wohl eher im Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten (1995) wieder und nicht mehr so sehr in den Schutzbestimmungen des Gruber-De-Gasperi-Abkommens im Rahmen des Pariser Friedensvertrags (1946). Damit hat der sehr lange Weg und Kampf um Minderheitenschutz und um Selbstverwaltung des südlichen Tirols seit dem gewaltsamen Anschluss an Italien auch einen gesamteuropäischen Wert. Auch, wenn Italien, trotz Unterzeichnung (2000), bis heute hingegen immer noch nicht die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (1992) ratifiziert hat.
Ja, 1992 hat das Südtirol mit der Streitbeilegungserklärung für den damals nicht rasch genug gehenden EU-Beitritt Österreichs einen sehr hohen Preis bezahlt. Das gehört auch zur Wahrheit. Denn nicht mal für die Umsetzung der eh schon sehr wenigen Schutzbestimmungen des Gruber-De-Gasperi-Abkommens im Rahmen des Pariser Friedensvertrags (1946), wie die völlige Gleichstellung des Deutschen mit dem Italienischen in (öffentlichen) Amtsbeurkundungen (z.B. bei Normsetzungen), aber auch in der Toponomastik hat es bis heute, nach 76 Jahren, gereicht. Es wurden auch keine Rechts- und Schutzgarantien vereinbart, noch wirksame Mechanismen, wie z.B. ein bilaterales Monitoring, Schiedskommission (vgl. Kreisky-Saragat 1963), Schiedsgericht implementiert (noch eine Wiederverleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft im europäischen Geist und der Weitherzigkeit ermöglicht).
Wen wundert es da? Schlimmer noch. Wir sehen zusehends eine gezielte Aushöhlung und Beschneidung der tatsächlichen Kompetenzen von 50% im Vergleich zu 1992. (Vgl. Dissertation des preisgekrönten Juristen Dr. Matthias Haller — mit dem Titel „Südtirols Minderheitenschutzsystem. Grundlagen, Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht.“)
Auch ein Peterlini wird wohl zur Erkenntnis kommen (dürfen), dass all das hier dargestellte Klein-Kein des Minderheiten- und Autonomieschutzes mit seinen Unwegsamkeiten mehr als brüchig und von rechts-politischen Entwicklungen in Italien selbst abhängig ist. Machen wir uns also ehrlich. Denn auch in Südtirol zählt, was am Ende rauskommt. Ein schwerer Stand, heute mehr denn je, jedenfalls für „ein kleines Europa in Europa“ (Kompatscher).