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Generalbass Fremdheit

Joseph Zoderer: Der Schmerz der Gewöhnung ist sein Meisterwerk. (Foto: Max Lautenschläger)

Der Literaturwissenschaftler Elmar Locher über das Werk des verstorbenen Schriftstellers Joseph Zoderer (25. 11. 1935 – 1. 6. 2022).

Du kennst den Tod

Als hättest du mit ihm gespielt

Ohne Angst und ohne Tränen

Vielleicht

Verwechselst du ihn mit jemandem

Todesahndungen, Schlaglöcher des älter werdenden Alltags, queren die Sprache des letzten Gedichtbandes Bäume im Zimmer(2021) und schreiben sich metaphernlos unverblümt Seite um Seite ins Wort. Und am 1.6.2022 ist keine Verwechslung mehr möglich. Er, der Türhüter der letzten Tür, spricht das letzte Wort. Ein Siebenzeiler grundiert noch die Todesanzeige: Warum läufst du / lachend vor Angst / auf die letzte Türe zu? / Du musst / von der Schneeflocke lernen / in der Luft zu tänzeln / und lange in der Schwebe zu bleiben. Könnte man die Angst der Frage als inexistent werten und das imperative Sprechen des Achsenverses, das entfernt noch Rilke mitspricht –  Du mußt das Leben ändern –, als bereits eingelöste Haltung gelebten Lebens begreifen, man könnte von einem glückhaft gelungenen Leben sprechen, angekommen an der letzten Tür. Das poetische Sprechen, seines Ornats entkleidet, abgespecktes Knochengerüst der Sprache, wird schwerelos durchscheinend auf ein Ende hin.

Schlaglöcher 1970, das Entree-Billet: neue literatur aus südtirol, herausgegeben von Gerhard Mumelter. Der gedruckte Auszug wird dann 1993 als dritter Abschnitt der Schlaglöcher  (Raetia) zu lesen sein und die man wieder zur Hand nehmen sollte:

war nicht vermerkt fand sich nicht unter den Anmerkungen / war nicht eingetragen nicht auf dem Programm den halben / Nachmittag und gestern war es ebenso und noch immer muß / er gähnen und wischt sich über das linke Auge die Flaggen / gestrichen schon ist der Winter auf Halbmast gleich wird es / kälter sein ein Tor nach dem anderen das Niveau ist nicht / erhebend lauter leere Flaschen

als Zondra Zondra wurde und Zondra ebenso wie Zondra

Präsident werden wollte

Der Duktus folgt interpunktionslos mäandernd dem Sprachfluss. Alliterationen, Assonanzen und Zeilenbrüche reihend, stellt er die Fallen der Syntax aus, verknäuelt Gegensatzpaare semantisch, quert Felder, streift Ränder, verzichtet auf jegliches Narrativ. Es ist bereits in dieser Textur ein kliaben von dreckknuidelen sprachlicher Materialität zu lesen. Hätte der Text 1970 einen Verleger gefunden, er stünde heute in einer Reihe mit Jürgen Beckers Felder (1964) und Ränder (1968). Auch für Zoderer gilt, was Wolfgang Hildesheimer (Der Spiegel 26/1968) zu diesen frühen Texten Jürgen Beckers anmerkte: Mit kunstvoll vorgetäuschter Diskretion eines Registrators, die aber in Wirklichkeit oft bis zur Zerreißprobe selbstverleugnende Verfremdung ist und ihren Standort zwischen Trauer und Verzweiflung, Resignation, Mitgefühl, Ironie und Bitterkeit wechselt, führt er seinen Leser über die Felder, auf denen anderer Leute Romane gedeihen, und, darüber hinaus, an die Ränder des Ausdrückbaren.

Das poetische Ich, s maul auf der erd, Trüffelhund unserer Camouflagen, kliabt, erneut (1974) und insistenter denn je, dreckknuidelen, diese Elementarteilchen unserer Existenz. Es treibt die Spaltungsprozesse immer weiter, lässt in dialektalen Fusionsprozessen immer neue Wortagglomerate in unerwarteten Satzmolekülen entstehen. Die Gedichtsammlung stellt sich dialektal quer zu Tradition und schöner Sprache, wird zum erratischen Block poetischer Erwartungshaltungen.

Joseph Zoderers Roman Die Walsche (1982) wertet der Kritiker Henning Klüver in der Zeit‚ vom 5. 4. 1985 als den ersten Band einer Trilogie der Entfremdung. Die Walsche ist Olga, die der Krautkopf- und Erdäpfelwelt der dörflichen Enge in die Stadt entkommen ist, während der Vater, der Dorflehrer, der zwar das Hinaus in die Welt zu seinem Leitspruch erhoben, doch im Dorf verbleibend, sich langsam zu Tode säuft. Olga fungiert als Wahrnehmungsoperator. Sensibel registriert ihr Blick, was ihm passiert in der anfänglich fremden Stadt, was ihm zufällt an Fremdheitseinfällen wie an eigenen Entfremdungsquanten. Die Stadt zeigt ihre unterschiedlich kulturell vermittelten Zeichen vor: Zeichen der Architektur, die eingrenzend wie ausgrenzend Sieger wie Besiegte benennen, und an denen sich, von Fall zu Fall, beidseitige Nationalismen hochschaukeln. Plätze und Straßen der Stadt sind symbolisch und optisch aufgeladen. Die Linie der nicht sistierbaren Punkte der Grenzziehungen aber verläuft am wie durch den Körper; seine Zeichensprache, die fremde, fällt auf. Der andere, fremde Körper zieht den Blick an, und erst in diesem sieht sich der eigene. Der Körper schält sich in der fremden Kultur aus der verfestigten Starre der so erst wahrgenommenen eigenen. Die Haut trennt, in der eigenen Tradition, ein jedes Innen vom Außen und sondert in einer letzten Grenzziehung Privatheit von Öffentlichkeit: Sie umspannt den stillgestellten Körper. Die andere Kultur scheint den Körper anders zu leben, als den extrem beweglichen. Seine Intimität wird ablesbar im Außen, und Privatheit formuliert sich einsehbar: Diesem Körper ist erlaubt, aus der Haut zu fahren. Er wird die Außenseite seiner Innenseite. Am liebsten stand sie in der Nähe von Fernsprechkabinen. und sah den Telefonierenden zu, wie sie sich hinter der gläsernen Wand hin- und herwanden, die Telefonschnur zwischen den Fingern drehten, auch ihre Augen verdrehten und mit dem schwarzen Hörer an der Wange lachten oder brüllten oder sich vornüberbeugten, über den Hörer beugten, als ob sie einen Bauchkrampf hätten, und flüsterten und verschwörerische Blicke zur Kabine hinauswarfen.

Elmar Locher: Joseph Zoderer steht in der literarischen Gewichtung neben Peter Handke, und das ist nicht wenig. (Foto: Fiorentino)

Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen seines erfolgreichen Romans Die Walsche, erscheint 2002 Der Schmerz der Gewöhnung, Zoderers Meisterwerk. Und wieder zieht sich durch alle Kritiken als Generalbass der Begriff der Fremdheit. Jul, der Protagonist, der seine Tochter Natalie verloren hat, und seither schmerzlicher denn je die fremde Nähe zu seiner Frau Mara lebt, da er ihr Mitschuld am Tode der gemeinsamen Tochter gibt, begibt sich auf die Reise nach Agrigento, der Heimat des Großvaters seiner Tochter. Mara stammt mütterlicherseits aus einer deutschsprachigen Familie. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, in die eigene und in die des Landes, in dem er lebt und das sich zu entscheiden hatte zwischen Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland. Auch eine Reise in die Vergangenheit Maras, denn Maras Vater war unter dem Faschismus nach Südtirol gekommen und bekleidete eine ranghohe Position. Er war nicht einer, der Mussolini nur verehrte. Im letzten Satz des Romans wird Jul, zusammengebrochen in der Hotelhalle in Agrigento, die Kreisbewegung zurück in die Berge imaginieren: Dann ließ er seine Knie tun, was sie tun wollten. Er kniete, weil er anders nicht mehr konnte, auf dem schmierigen Teppich vor der Portiersloge nieder, fiel auf die Seite und zog die Beine instinktiv zum Bauch. Er rollte sich ein wie sein Hund, weit weg in den Bergen. Und Jul hatte doch Mara in einer antifaschistischen, außerparlamentarischen Bewegung kennen gelernt, in der man vornehmlich in italienischer Sprache diskutierte, und politische Aktionen in der fremden Sprache entworfen wurden. In den Garagendiskussionen traf man, im politischen Raum, auf die politisch-soziale Komponente der Sprache, die es ermöglichte, quer durch alle theoretischen Petitessen streitbar die Konflikte der Gesellschaft zu benennen. Man las, der Autor dieser Zeilen wie Joseph Zoderer, Lenin Was tun? im fremden italienischen Idiom. Dem eigenen, glaubte man, entkommen zu sein. Und war es dann doch nicht, denn auch diese politische Sprache hatte, zusätzlich, einen anderen theoretischen Hintergrund als die eigene, die sich an der Theoriesprache der Zeitschriften Argumente und Alternative abarbeitete. Neue Fremdheit mithin auch hier. Doch: Jul und Mara trafen sich in der Gegenwart, und sie hatten vergessen, dass die Vergangenheit noch vor ihnen lag:Daß er und sie zusammen auf die Straße gingen, um auf der Seite der anderen zu sein, der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, vielleicht löschte das für sie die Vergangenheit ihrer Väter aus: Auch Juls Vater war ein Nazi gewesen, kein großer und kein kleiner Funktionär, aber doch einer von den vielen Mitläufern. Aber die Straße löschte die Vergangenheit nicht, und Erinnerungen werden nicht geschleift. Die Protagonisten des Romans selbst hatten aber schon den Rückzug in die Berge angetreten. War Olga der bedrückenden Enge des Dorfes in die Stadt und in die andere Sprache wie die andere politische Kultur entkommen, so ziehen sich Jul und Mara aus der Stadt, aus der Nähe zur anderen Sprache, in ein Bergdorf zurück und hocken in einem Berghaus auf dreißig Grad Hangneigung. Aus der anderen politischen Kultur müssen sie sich nicht zurückziehen, denn die gibt es nicht mehr, zumindest nicht so, wie noch zu Olgas Zeiten. Der Roman benennt den neuen Sachverhalt lapidar: So kamen sie zu dem Entschluß, ganz für sich zu leben: sie zwei mit und für Natalie. Und für Natalie wollten sie vor allem Gras, Tiere und Wald haben, ein Haus weit weg von der Stadt. Die Garagendebatten hatten aufgehört, statt Flugzettelaktionen oder Demonstrationen wurden in den Mitsiebzigern »Kulturzentrumsabende« in öffentlich zugelassenen Stadtsälen abgehalten.

Doch wer ertrinkt mit Natalie im Schwimmbad? Stirbt da nur Juls und Maras Tochter, oder stirbt da, im Namen der Tochter, die schöne Seele (Natalie) aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre –  eine hohe schöne Seele, das edle Suchen und Streben nach dem Besseren, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen? –,  nun politisch alludiert? Wäre dann, mit Natalie, die Tochter einer utopischen Mesalliance gestorben?

Auch wenn Heinz Ludwig Arnolds wertender Eingangssatz der Rezension (29 Dossier Joseph Zoderer) zu Joseph Zoderers Roman Der Schmerz der GewöhnungFrüher schrieb Peter Handke so gute Sätze und Bücher wie noch immer Joseph Zoderer –  mit Vorsicht zu lesen ist, so steht doch Joseph Zoderer in der literarischen Gewichtung neben Peter Handke, und das ist nicht wenig.

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