„Gedichte sollte man einer Katze vorlesen“
Michael Krüger, Dichter, Schriftsteller und ehemaliger Leiter des Hanser Verlags, liest am Mittwoch bei Literatur Lana aus seinen Gedichten. Am Donnerstag hält er die Laudatio bei der Vergabe des N. C. Kaser-Lyrikpreises. Ein Gespräch über N. C. Kaser, alte weiße Männer, seine Bibliothek ungeschriebener Bücher im Kopf und die Schönheit eines gelungenen Gedichts.
Tageszeitung: Herr Krüger, erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Gedichten von N. C. Kaser?
Michael Krüger: Ja, sehr gut sogar. Hans Haider, Wiener Literaturkritiker, mit dem ich befreundet war, hat mich auf diesen Dichter hingewiesen, von dem allerdings nur wenig zu lesen war. Deshalb konnte die Rolle des Rebellen den Autor ins Abseits rücken – das ist immer schlecht für die Rezeption. Ich habe Kaser sogar einmal kennengelernt, aber das war nicht besonders ergiebig, weil er schon einen sitzen hatte. Es gibt einige seiner Gedichte, die ich bewundert habe. Die Wut auf seine Heimat habe ich aus Unkenntnis der genauen Situation nicht wirklich verstanden – erst durch die Freundschaft mit Zoderer sind die Hintergründe für Kasers Wutrede deutlicher geworden.
Sie sind selbst Lyriker und kennen die internationale und deutschsprachige Lyrik wie kaum ein anderer. Halten Kasers Gedichte und Prosawerke auch 50 Jahre danach noch stand?
Man weiß nie, in welchem Rahmen Gedichte „überleben“. Selbst einige der großen Dichter Deutschlands werden heute kaum noch gelesen, z.B. Günter Eich oder Peter Huchel. Das liegt daran, dass es kein Interesse gibt an solchen Subtilitäten. Aber die Quantität ist ja nicht entscheidend. Wenn es jedes Jahr einen oder eine gibt, die Kaser für sich „entdecken“, ist ein Dichter nicht verloren. Gerade die jungen wilden Dichterinnen sollten sich an Kaser ein Beispiel nehmen. Es ist wunderbar zu sehen, wie die jüngeren Dichter und Dichterinnen internationale Netzwerke schaffen, in denen sie sich austauschen, auch im Internet. Und gottlob gibt es noch Verlage, die mit staatlicher Förderung Gedichtbände drucken, obwohl sie nur dreihundert Exemplare verkaufen können. Und es gibt Preise – wie den Kaser-Preis – , um besonders interessante Dichter herauszuheben. In den letzten Jahren ist die Poesie in großen Teilen sehr akademisch, schwierig, gelehrt geworden, und man kann auch an den Biografien ablesen, dass es sich um gebildete Menschen handelt. Das hat zu dem Eindruck geführt, dass nur gebildete Stände Gedichte verstehen – aber das ist natürlich Quatsch.
Sie haben den schottischen Dichter John Burnside zum Kaser-Preisträger `20 nominiert und die Belarussin Valzhyna Mort zur Preisträgerin `22. Sehen Sie eine literarische Verwandtschaft der beiden mit Kaser?
Ich weiß nicht, ob es eine Verwandtschaft gibt, aber es gibt Berührungen! Zum Beispiel hat John Burnside, dieser bedeutende schottische Dichter und liebenswerte Mensch, in seinen Prosabüchern seine Alkoholabhängigkeit thematisiert – ein sehr bewegendes Stück Selbsterforschung! Und die Wut der Belarussin Valzhyna Mort ist durchaus mit der Wut von Kaser zu vergleichen – wenn nicht eben doch jeder Mensch ein eigenes Schicksal hat. Die Poesie macht das ja deutlich: Es gäbe sie nicht mehr, wenn alle Liebesgedichte vergleichbar wären. Wir sagen ja gottseidank nicht: Über die Liebe hat „Das hohe Lied“ das Entscheidende gesagt, also erübrigen sich alle weiteren Liebesgedichte von Sappho über Ingeborg Bachmann bis heute, sondern wir lesen mit jedem geglückten Liebesgedicht eine neue Facette. Was man vergleichen kann, ist die Intensität dieser drei Dichtungen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben.
Die Literatur und die Poesie bleiben von den teils aggressiven Debatten um Identität, Aneignung, alte weiße Männer und Cancel Culture nicht verschont. Wie geht es Ihnen dabei?
Ja, das sind halt Dinge, die heute bewegen, aber morgen wahrscheinlich von anderen Problemen abgelöst werden. Nichts davon entscheidet wirklich darüber, ob am Ende ein gutes Gedicht herauskommt. Wenn man zu viel an Cancel Culture, alte weiße Männer und Identität denkt, kann man sich nicht wirklich auf die Dichtung konzentrieren. Das sind wichtige politische Debatten, aber sie berühren im Kern nicht das Gedicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, jeder soll denken, was ihm und der Gesellschaft durch den Kopf geht. Aber kein Mensch fragt nach der Klassenlage in Weimar, als Goethe sein kleines Gedicht „Wanderers Nachtlied“ schrieb. Die Menschheit hat sich als Menschheit, als globale Gesamtgesellschaft, in einen Zustand entwickelt, der ein langes Überleben zumindest fraglich macht, das haben uns die Krisen der letzten Jahre deutlich vor Augen geführt: also gibt es eine große Menge an Ideen, wie diese Gesellschaft sich entwickeln soll. Aber ob sie es dann auch tut? Das Beispiel des nun schon sieben Jahre andauernden Ukraine-Krieges haben das Dilemma deutlich gemacht: alle GROSSEN Fragen brauchen neue Antworten, von der Moral über die Frage des Krieges bis zu Ernährungsfragen. Aber bei allen GROSSPROBLEMEN darf eben die Identitätsfrage nicht unter den Teppich gekehrt werden.
Was steht auf dem Spiel, wenn politische Korrektheit wichtiger als die literarisch-ästhetische Form ist?
Beides kommt schlecht miteinander aus. Ich habe zu viel politische Korrektheit erlebt, die sich in schlechten Gedichten verewigt hat: Meistens ist dann ein hohler Kulturbegriff das Resultat, gähnende Langeweile.
Ihr Umgang mit Literatur ist geprägt von zahlreichen persönlichen Begegnungen und Freundschaften mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, um die man Sie nur beneiden kann. Gibt es diese Form des Gesprächs noch im derzeitigen Literaturbetrieb?
Ich habe Glück gehabt. Ich habe nicht an der Universität studiert, sondern mir mein Studium durch die Lektüre selbst erarbeitet. Jedes Buch, das ich verlegt habe, hat etwas zu meiner Bildung beigetragen. Es war ein großes Vergnügen, das als Lebensaufgabe zu verstehen. Die vielen Philosophen, Soziologen, Anthropologen, Dichter und Schriftsteller, die ich verlegen durfte, haben mich zu dem gemacht, der ich bin. Und ich gebe gerne zu, dass ich eigentlich noch etwa vier Leben bräuchte, um das zu lesen und zu bedenken, was ich mir vorgenommen habe. Wie Canetti gesagt hat: Man sollte so lange leben, bis man alle wesentlichen Bücher zur Kenntnis genommen hat. Das schaffe ich nun nicht mehr. Soll man darüber traurig sein? Nein. Ich bin traurig, andere Dinge nicht erlebt zu haben. Ob es diese Akademien des Geistes noch gibt? Auf jeden Fall zu wenig. Ich empfinde es aber als eine große Ehre, hier in Lana auftreten zu dürfen: Das sind gesellschaftliche Umgangsformen, die mir gefallen.
Welche Begegnungen waren und sind für Sie die schönsten?
Es hätte nur dann Sinn, wenn ich zu den Personen auch die Geschichte erzählen kann, die für mich wichtig war. Zu diesem Zweck müssten Sie mir Ihre gesamte Zeitung zur Verfügung stellen – aber ich warne Sie: Es wird Abbestellungen geben, und das sieht ein Verleger nicht gern.
2013 haben Sie die Leitung des Hanser-Verlags abgegeben, schreiben jetzt mehr denn je, publizieren jährlich Gedichtbände und Erzählungen. Weil Sie schlicht mehr Zeit haben oder sind Sie jetzt freier in Ihrem Schreiben als früher?
Ich habe eine Bibliothek ungeschriebener Bücher im Kopf, die ich im Moment abarbeite, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist; das wird mir nur zum Teil gelingen, der Rest bleibt dann eben ungeschrieben: Das sind, wie wir beide wissen, nicht die schlechtesten.
Ein „ästhetisch-literarisches Gewissen der Moderne“ wird Michael Krüger genannt. Kann es sein, dass Sie der letzte literarische Europäer sind, dessen Wissen ein poetisches Gewissen ist?
Gewiss nicht! Aber ich bin traurig, dass europäisches Denken im Moment nicht besonders geliebt wird und nicht nur von Präsident Putin, Ex-Präsident Trump und ähnlichen Kalibern. Es wird sich zeigen, ob von unserer europäischen Kultur nach Beendigung aller Krisen nur der Konsumismus übrigbleibt. Das wäre entsetzlich! Ich würde mit einem Schrei ins Grab sinken, der von Island bis Sizilien gehört werden wird.
Zuletzt: Was bedeutet Gedichte schreiben und Gedichte lesen für Sie?
Alles! Was gibt es Schöneres, als ein gelungenes Gedicht zu lesen – und was macht einen glücklicher, als das Gefühl zu erleben, man hätte ein solches selber zu Papier gebracht – was sich natürlich als schwerer Irrtum erweisen kann. Aber Gottseidank weiß man nicht, wenn man eins schreibt, ob es wirklich was taugt. Man sollte es einer Katze vorlesen. Macht sie ein interessiertes Gesicht, ist das ein halber Sieg; fängt sie an, sich gelangweilt zu putzen, hat man Pech gehabt. Aber auch dieses Pech ist eine Art von Glück.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Michael Krüger, geboren 1943, begann 1968 seine Tätigkeit als Lektor im Münchner Carl Hanser Verlag, den er von 1986 bis 2013 leitete. Seit 2013 ist er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zudem Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Berliner Akademie der Künste. Als Herausgeber editierte er u. a. die Literaturzeitschrift „Akzente“. 1976 erschien sein erster Gedichtband, „Reginapoly“, 1991 sein erster Roman, „Der Mann im Turm“. Seither zahlreiche Buchveröffentlichungen. Neben Auszeichnungen wie dem Peter-Huchel-Preis und dem Mörike-Preis wurde Michael Krüger die Ehrendoktorwürde der Universitäten Bielefeld und Tübingen verliehen.
Michael Krüger liest
Am Vorabend zur Verleihung des N.C. Kaser-Preises, am 8. Juni um 20.00, liest Michael Krüger in Lana aus seinem letzten Gedichtband „Im Wald, im Holzhaus“.
Als die Viren-Katastrophe über uns kam, begann Michael Krüger, mit einer schweren Gürtelrose geschlagen, gerade eine Therapie gegen seine Leukämie. Und weil seine Immunabwehr auf null stand und ihn ein ferner Husten umgeworfen hätte, musste er sich von Menschen fernhalten. Er lebt seither in einem Holzhaus in der Nähe des Starnberger Sees. Von dort hat er seine poetischen Botschaften geschickt, Meditationen aus der Quarantäne, die viele Monate lang im Magazin der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurden und eine große Resonanz fanden. Fünfzig Blicke auf die Natur und die „Natur“, auf die unmittelbare Umgebung eines eingeschränkten Lebens und über den Horizont hinaus, aber auch Blicke nach innen, auf Vergänglichkeit, Krankheit und Tod.
[….]
Alles blüht, also muss wohl Frühling sein,
jede Ackerwinde ist eine Anspielung aufs Paradies.
Aber ich sehe auch den Schnee, der ins Tal stürzt,
seiner Auflösung entgegen, und den Wunsch
ein anderer zu sein, trägt eine Feldlerche höher
und höher, bis sie das Auge für immer verliert.
Jetzt bloß keine Angst kriegen und stehen bleiben,
denn dann war der ganze Umweg für die Katz.
Termin: Mittwoch, 8. Juni um 20.00 bei Literatur Lana, Lana Hofmannplatz 2.
N.C. Kaser Lyrikpreis an John Burnside und Valzhyna Mort
Vor zwei Jahren, mitten in der Pandemie, wurde der Schotte John Burnside mit dem N.C. Kaser Lyrikpreis geehrt, in diesem Jahr geht er an Valzhyna Mort aus Belarus.
John Burnside (*1955), der Dichter, der die Kindheit in einer sterbenden schottischen Bergarbeiterstadt und in den englischen Midlands verbrachte, macht Verbrechen, Psychosen und Albträume ebenso zum Thema wie die Bezauberung durch die Natur und Mystik. Irrlichtern flackert seine Literatur in poetischer und dann robuster Umgangssprache, schürft an den Rändern verstörender Wahrnehmung und flimmert zwischen dunkler Beschwörung und hartem Realismus.
Valzhyna Mort (*1981 Belarus), die in Minsk aufgewachsene und seit vielen Jahren in den USA lebende Dichterin stanzt in streng rhythmisierte Verse voller Sprachkraft eine Unerbittlichkeit, die die geschichtlichen Wunden eines Landes nicht schließen und nicht aufhören kann, die Toten und die Ohnmacht der Leidenden zu beklagen. Angesichts des aktuellen Krieges bekommt die Lyrik der Belarussin noch einmal eine hellsichtige und schlagkräftige Bedeutung.
Michael Krüger nominierte den Dichter und die Dichterin und ehrt sie in einer Rede, die er „Lektüren der Trauer“ nennt. Mit ihm und der Übersetzerin Katharina Narbutovic sowie dem Übersetzer Iain Galbraith feiert Literatur Lana im Obstbaumuseum von Niederlana die beiden Ausgaben des mit je 10.000 € dotierten Lyrikpreises. Er wird von der Marktgemeinde Lana, dem Österreichischen Bundesministerium, Fam. Flora und Elmar Locher getragen.
Termin: 9. Juni um 19.00 Uhr im Obstbaumuseum Lana, Brandiswaalweg 4, Niederlana.
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