Tirol und die „Ostfront“
Der russische Krieg gegen die Ukraine wird bereits als „Zeitenwende“ bezeichnet. Doch bereits während des Ersten Weltkrieg spielte sich der Weltwaffengang zum Teil genau in derselben Region ab. Das Tiroler Archivs für photographische Dokumentation und Kunst (TAP) ermöglicht in einer virtuellen Ausstellung eine Visual History der russischen Front im Ersten Weltkrieg 1914 bis 1916. Ein Beitrag von Martin Kofler.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, begonnen am 24. Feber 2022, wird bereits als „Zeitenwende“ bezeichnet. Nicht nur aufgrund des massiven Einschnitts mit Völkerrechtsverletzung und Kampf gegen die Zivilbevölkerung mitten in Europa, sondern auch aufgrund vielfacher Sanktionen einer geschlossenen Europäischen Union gegen Moskau. Geht man über 100 Jahre zurück, dann stellt man fest, dass sich der Weltwaffengang anno dazumal zum Teil genau in derselben Region abgespielt hat. Allerdings unter völlig anderen Voraussetzungen und Gegnerschaften – denke man nur an die Tatsache, dass es damals gar keine Staaten Ukraine und Polen gegeben hat, sondern die Monarchien Österreich-Ungarn, das Deutsche Kaiserreich und das zaristische Russland im Raum des heutigen Südpolens und der West-Ukraine unmittelbare Nachbarn gewesen sind.
Die Zielrichtung der Ausstellung ist, die damalige Tragik der Kriegsverhältnisse näherbringen und die traurige Ebene „Tirol & Ukraine“ zu verdeutlichen. Die Schau ist ein ansprechender Überblick in Bild und Wort zu einem schwierigen bzw. eher in Vergessenheit geratenen Kapitel der Tiroler/Südtiroler Zeitgeschichte. Das Schicksal an der russischen Front 1914/15 betraf zahllose Familien direkt.
Der Blick zurück in die Geschichte ist wichtig und schärft den Fokus: Er verdeutlicht auch die Tatsache, dass vielfältige Konflikte in der Region Mittel-/Osteuropas nicht wirklich neu sind. Die enorme Katastrophe von heute hat tiefsitzende, leider sehr negative Wurzeln. Der Verweis da und dort auf die österreichisch-ungarische Kulturstadt Lemberg ist zu wenig: Lemberg, das heutige Lwiw in der West-Ukraine, ist derzeit überfüllt mit traumatisierten Flüchtlingen … Heute wie damals war das „einfache Volk“ – Tiroler und Ruthenen (Ukrainer) – Spielball uneinsichtiger Politik der Allerobersten im Land.
Die neue virtuelle Ausstellung des Tiroler Archivs für photographische Dokumentation und Kunst (TAP) ermöglicht eine Visual History der russischen Front im Ersten Weltkrieg 1914 bis 1916. Die Hauptkapitel beschäftigen sich mit dem Kriegsausbruch und dem Herbst-Trauma 1914 bis hin zum wechselnden Frontverlauf im Rahmen der Schlacht bei Gorlice–Tarnów im 1915 und der Brussilow-Offensive 1916.
Abseits einzelner gezeigter Denkmäler und Friedhöfe, die auf den omnipräsenten Faktor „Tod“ verweisen, liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den für diese Schau erstmals erschlossenen rund 300 Aufnahmen des Fotografen Wilhelm Dronowicz in der Sammlung Martin Dobernik im Tiroler Photoarchiv TAP, die den Bereich der russischen Ostfront zeigen. In den allermeisten Fällen handelt es sich um seltene Stereoaufnahmen (2 Fotos im Augenabstand mit einer speziellen Kamera aufgenommen; dieselbe Technik wird heute für Virtual Reality verwendet), in der Regel sind sowohl die Glasnegative als auch (beschriftete) Abzüge erhalten. Hier werden die sehr wechselhaften Kämpfe in Galizien und Wolhynien, heute Teile der Staaten Polen und Ukraine dokumentiert. Man sieht Vormarsch, Zerstörungen, Anlegen von Schützengräben durch die Zivilbevölkerung, Errichtung von z. T. großen Unterkünften in der Etappe, also im Hinterland, die stark umkämpfte Stadt Luck, heute Luzk/Ukraine, Einzel- und Gruppenaufnahmen der Einheimischen bis hin zur eigenen Truppe (4. Armee, Sappeur-Kompanie 2/3) und deren Aufgabenbereichen.
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