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„Das war extrem fahrlässig“

Der Notfallmediziner Werner Beikircher erhebt schwere Vorwürfe gegen die Veranstalter der Tunnelfete von St. Lorenzen. Die Party mit über 4.000 Gästen hätte aufgrund der Massenpanik-Gefahr nie genehmigt werden dürfen.

von Artur Oberhofer

Werner Beikircher hat nur eine Erklärung: „Entweder die Veranstalter haben die für die Sicherheit und für die Genehmigungen zuständigen Stellen über den Tisch gezogen, oder man hat die international gültigen Empfehlungen für die Katastrophenprävention bei Großveranstaltungen einfach ignoriert.

Laut Werner Beikircher, dem ehemaligen Leiter des Dienstes für Notfallmedizin im Krankenhaus in Bruneck, hätte die Fete anlässlich der Eröffnung der neuen Einfahrt ins Gadertal so niemals stattfinden dürfen. „Wenn sich in einem Tunnel, in dem es keine Fluchtwege gibt, auf ein paar hundert Metern eine Menschenkette von 4.000 Personen bildet, dann genügt eine kleine Gedrängezelle, um eine Massenpanik auszulösen“, so der erfahrene Notfallmediziner.

In dem Tunnel habe es keine Sicherheitskorridore gegeben. Ein kleiner Zündfunke, der eine Massenpanik auslöst, hätte genügt, und – so Beikircher – „man hätte Leichen aus dem Tunnel herausholen müssen“.

Die TAGESZEITUNG hat mit Werner Beikircher gesprochen:

TAGESZEITUNG: Herr Dr. Beikircher, Sie sind über die Tunnelfeten-Bilder schockiert?

Werner Beikircher: Vorneweg eine Klarstellung: die neue Tunnelzufahrt ins Gadertal bei St. Lorenzen ist eine technisch herausragende Lösung und ein Segen für alle Anwohner. Der positive Abschluss einer solchen Großbaustelle darf, ja muss gefeiert werden. Ob das in einem Tunnel sein soll, ist eine andere Frage.

Sie meinen, wegen der Corona-Pandemie?

Im Anschluss an die Megafete mit offiziell 4.000 bis 5.000 Teilnehmern ist in der Tat ein Sturm der Entrüstung losgebrochen, der sich hauptsächlich um die Corona-Problematik gedreht hat. Dass dabei Corona-Schutzregeln nicht eingehalten wurden, ist offensichtlich. Aber wahr ist, dass im derzeitigen Ausschleichen der Pandemie dasselbe vielerorts bei Großveranstaltungen geschehen ist. Damit wird diese Tatsache nicht besser und schon gar nicht legitimiert, aber es ist Heuchelei, in St. Lorenzen den Hotspot des Südtiroler Infektionsgeschehens zu suchen. Das Problem ist ein anderes

Nämlich?

Für jede Großveranstaltung besteht die Herausforderung der geometrischen Logistik und Besucherlenkung. Dies gilt weniger für ein Rockfestival auf offener Wiese, aber ganz besonders für Menschenmassen in beengten architektonischen Gegebenheiten wie Stadien, Altstadtgassen, religiösen Zentren und Riesenhallen. Dass ein Tunnel in diese Kategorie fällt, ist selbsterklärend.

Worin bestand bei der Tunnelfete in St. Lorenzen das große Risiko?

Das Problem bei derartigen Veranstaltungen sind unerwartete, nie auszuschließende Zündfunken einer Massenpanik. Das können kleine technische Pannen sein, Attentate, Feuerwerkskörper, Schlägereien, Fehlinformationen oder tatsächlich Lappalien. Die Folgen sind unkontrollierbare Schwarmbewegungen und Menschenwalzen. Beim Fehlen von Fluchtwegen und -räumen werden oft Dutzende von Menschen erdrückt und zu Tode getrampelt, traumatologisches und oft tödliches Leitmotiv ist die Thoraxkompression.

Solche Katastrophen hat es immer wieder gegeben.

Ja, denken wir an die Pilgerfahrt am Berg Maron in Israel im Jahr 2021: 45 Tote. Das Rap-Konzert in Texas 2021: 8 Tote. Die Love-Parade in Duisburg 2010 mit 21 Toten. Die Tragödie im Heysel-Stadion von Brüssel im Jahr 1985 mit 39 Toten. Oder denken wir an die Mekka- Wallfahrt in Hadsch im Jahr 1990: Diese Tragödie forderte 1.426 Tote in einem Fußgängertunnel. Ich weiß ehrlich nicht, was sich die Veranstalter der Tunnelparty zu diesem Thema gedacht haben. Oder denken Sie an Massenpanik im Bergisel-Stadion in Innsbruck im Jahr 1999 mit sieben Tote. Das ist im Heiligen Land Tirol, einenSteinwurf von uns entfernt, passiert.

Das Risiko der St. Lorenzer Fete wurde unterschätzt? Möglicherweise hat man auch nicht mit so vielen Besuchern gerechnet …

Ja, das kann sein, aber jegliche Verweise auf die durchaus anwesenden Rettungskräfte wie Feuerwehr und Weißes Kreuz sind Ausreden, denn bei einer Massenpanik in einem Tunnel kann keine Rettungsorganisation zum Kern der Katastrophe vordringen. Am Ende des Tages – oder am Ende der Nacht steht der Abtransport von Schwerverletzten und Leichen. Auch die in großen Abständen vorhandenen Fluchttüren in den Tunnelwänden sind keine Hilfe, in mannsbreiten Auslässen kann kein Menschen-Tsunami abgebaut werden.

Die Veranstalter haben das Risiko offenbar völlig verkannt …

Natürlich, all die vorhin aufgezählten Katastrophen haben sich weit weg ereignet, irgendwo draußen in der weiten Welt. Bei uns, so glaubt man, kann das nicht passieren. Und das postfestaleTotschlagargument: Ist eh alles gutgegangen, ist sowieso nicht zu entkräften.

Bürgermeister Martin Ausserdorfer hat gegenüber der TAGESZEITUNG erklärt, Covid-Einsatzleiter Patrick Franzoni habe die Fete genehmigt …

Wenn das stimmt, dann sind alle internationalen Empfehlungen zur Katastrophenprävention bei Großveranstaltungen Makulatur. Ich kann mir das nur so erklären, dass man bei Franzoni nur wegen eines kleinen Festes angefragt hat.

Noch einmal, Herr Dr. Beikircher: Die Genehmigung dieser Veranstaltung hätte nicht erfolgen dürfen?

Nein, das war extrem fahrlässig und für mich unerklärlich. Es hätte genügt, wenn drei Personen zu Boden fallen, diese drei Menschen bilden ein Hindernis, es entsteht ein Riesengedränge mit Massenpanik. Und schon hätte man die Katastrophe gehabt.

LESEN SIE MORGEN: Was ein Sicherheitsexperte sagt.

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