Bleiben oder Gehen?
Kenneth Branagh erzählt in „Belfast“ von einem Dilemma, Kindheitserinnerungen, einem Trauma.
von Renate Mumelter
„Belfast“ von Kenneth Branagh passt derzeit leider nur zu gut ins Kino. Der Film lädt uns friedensverwöhnte KinogeherInnen dazu ein, zumindest in Ansätzen nachzuvollziehen, was es bedeutet, wenn eine politische Situation eskaliert und die Frage im Raum steht, ob man gehen oder bleiben soll. Eine Frage übrigens, die sich vor 83 Jahren auch in Südtirol stellte. Auch da war Gewalt im Spiel, eine andere, aber sie war da. Daran kann sich unsere Generation nicht wirklich erinnern. Was davon geblieben ist, sind „nur“ subtile transgenerationale Traumata. Die aktuelle Situation in der Ukraine lässt sich zwar nicht mit jener im Belfast im Jahr 1969 vergleichen, was aber vergleichbar bleibt, ist das Gefühl der Ausweglosigkeit, das vor die Wahl stellt, sich daheim einer unsicheren Zukunft auszuliefern oder abzuhauen in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Belfast 1969
Für die Familie von Kenneth Branagh war dieses Dilemma 1969 Wirklichkeit. Davon erzählt der Drehbuchautor und Regisseur in seinem Film. Branagh wurde 1960 in Belfast geboren. Als er neun Jahre alt war, spitzten sich in Nordirland die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten zu und gefährliche Situationen häuften sich. Friedliches Zusammenleben war nicht mehr, Freundschaften zerbrachen, gutnachbarschaftliche Beziehungen auch. Das hatte natürlich nicht nur mit Religion zu tun. Der größere Teil der Insel ist die vorwiegend katholische Republik Irland, während Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs Großbritannien und vielfach protestantisch ist. Eine schwierige Situation, zu der viele historische Wendungen geführt hatten, die heute nicht mehr geläufig sind. Aus dem Gemisch ergaben sich soziale Probleme, und das führte zu Spannungen, die erst 30 Jahre später halbwegs zur Ruhe kamen.
Buddy
Der neunjährige Buddy lebt mit seinem älteren Bruder, seiner Mutter, seinem Vater, der als Tischler in England arbeitet, und mit den Großeltern (Judi Dench und Ciaràn Hinch, beide für den Oscar nominiert) im nordirischen Belfast. Der Film „Belfast“ erzählt aus der Perspektive des Neunjährigen. Buddy sieht die Konflikte, erlebt Auseinandersetzungen, hat Angst. Vor allem aber träumt er davon, seine große Liebe zu heiraten und zum Mond zu fliegen. Er geht gern ins Kino, darf Filme wie „Chity, Chity Bang Bang“ sehen. Er erlebt die Alltagssorgen der Eltern mit, die sich um Geldprobleme drehen. Seine Großeltern Granny und Po liebt Buddy über alles. Irgendwann stellt sich für die Familie die Frage nach Bleiben oder Gehen, und Buddy kann nur zuschauen und ertragen. Jude Hill spielt diesen Buddy hervorragend. Bei den Kinoszenen hat er dasselbe ungläubige Staunen in den Augen wie Totò in Tornatores „Nuovo Cinema Paradiso“.
Nach dem Film
Im erstaunlich gut besetzten Kinosaal ist es während der 99 Filmminuten still, und beim Hinausgehen reichen die Kommentare von „bewegend“ bis „berührend“. Die schwarzweißen Bilder erinnern an „Roma“ von Alfonso Cuarón, dessen Film allerdings wesentlich vielschichtiger war. „Belfast“ ist flüssig erzählt, lebt von sehr guten Darstellern und von viel positiver Energie, die sich trotz aller Konflikte immer wieder durchsetzt. Über den Nordirlandkonflikt selbst ist nur so viel zu erfahren wie ein Neunjähriger in dieser Zeit wusste. Ein Großteil der Musik stammt vom gebürtigen Belfaster Van Morrison. „Belfast“ ist für 7 Oscars nominiert. Ich empfehle die OmU-Fassung.
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