Die Sache mit den schmutzigen Wörtern
Die in Bozen geborene Maddalena Fingerle hat mit ihrem Roman „Lingua madre“ einen mehrfach ausgezeichneten Bestseller geschrieben. Maria E. Brunner hat dieses elementare Werk über die Südtiroler Identität ins Deutsche übersetzt.
Von Helmuth Schönauer
Zwei Südtiroler Autorinnen mischen die Südtiroler Literaturszene auf wie es bislang vielleicht n. c. kaser mit seiner berüchtigten Brixner Rede 1969 geschafft hat, als er über die verlogenen Literaturbetreiber und andere Sprachwurschtl in Südtirol herzieht.
Bereits 2021 erregt der auf italienisch geschriebene Roman „Lingua madre“ der in Bozen geborenen Maddalena Fingerle größte Aufmerksamkeit, wird zu einem Bestseller, und seine Autorin reüssiert in allen erdenklichen italienischen Preisklassen.
Jetzt „vollendet“ die in Pflersch geborene Maria E. Brunner dieses elementare Werk über die Südtiroler Identität, indem sie es ins Deutsche übersetzt. Dadurch wird „Muttersprache“ ein richtig politischer und patriotischer Roman, weil sich auch die mono-sprachlichen Deutschen damit befassen dürfen.
Ehe die verrückt sensible Geschichte loslegt, sollte man sich die Anmerkungen durchlesen, vor allem den Hinweis, dass die verwendeten Namen Anagramme sind, die auf Sprachimpotenz, Sprachverunreinigung, Sprachhygiene und Sprachreinheit hinauslaufen.
Paolo Prescher erlebt in Bozen das komplette Desaster, die Familie ist gestört, die Stadt verrückt, jegliche Kommunikation ist dreckig, weil die Wörter schmutzig verwendet werden.
Der stumme Vater klebt zu Hause mit Notiz-Haftis Wörter auf die Gegenstände, damit er sie nicht aussprechen muss. Mutter ist schrill als Spontankünstlerin mit sich selbst beschäftigt, sie reibt sich an einem Literaten ab, der den verstörten Paolo-Buben zu einem Schriftsteller machen will. Die ältere Schwester ist heimtückisch schlau, sie verweigert sich dem Feminismus, weil sie „die Kerle auch so mit links vernascht“. Dem Bruder bringt sie eine falsche Sprache bei, denn die Buchstaben können nicht lügen, weshalb man sie neu zusammensetzen muss, auch wenn sie dann nichts mehr bedeuten.
Paolo wächst in seiner Sprachblase heran, statt Mutter hat er als erstes Wort „Wort“ gesagt, was zwar richtig ist, aber emotional nicht gut ankommt. Schaumlöffel ist ein schönes Wort, aber es wird sofort dreckig, wenn man es verwendet. Und die komplizierten Wörter erst! Nigger und Deutsche sind dreckige Wörter, man sagt überhaupt nie Deutscher, und die italienische Sprache ist dazu da, damit zu fluchen.
Wo die Wörter dreckig sind, werden es auch die Dinge dahinter. Ein Schulausflug auf den Ritten endet im Dreck, trotz Zwiebelschalenkleidung. Am Ritten gibt es nichts zu sehen, und die Leute dort sind alle aus Inzucht entstanden, heißt es. Ebenso gibt es die Ladiner in Wirklichkeit gar nicht, sie tauchen nur als Wort bei Subventionen auf.
Inzwischen wächst sich die Hölle zu Hause zur Katastrophe aus, Vater stürzt sich von der Wohnung auf den Gehsteig hinunter und stirbt wortlos, wie er gelebt hat, selbst der Hund stirbt gleich darauf wegen Wortlosigkeit, Paolo besteht das Lyzeum und beendet seine Identität als Bozner.
Wenn man mit der einen Sprache nicht mehr weiterkommt, weil sie alles dreckig macht, muss man sich eine neue Identität suchen. Paolo geht nach Berlin und macht auf in Bozen geborenen Italiener, der aber gut deutsch kann. Er wird mir nichts dir nichts in einer Bibliothek angestellt, weil es dort nur auf das höfliche Grüßen drauf ankommt, und das kann er, seit er deutsch spricht.
In Deutschland sind die deutschen Wörter plötzlich nicht mehr dreckig und man kann sie sogar mit Erfolg verwenden. Die tragfähigen Wörter führen plötzlich mitten in die Liebe hinein, selbst Sachen wie Pasta und Pizza sind tragfähig, wenn sie in Berlin stattfinden. Und die Atmosphäre in der Bibliothek erst: Alle Wörter sind einzeln in Watte gepackt und bedeutsam. Kein Wunder, dass die schönsten Liebesgeschichten immer in einer Bibliothek passieren. Paolo verliebt sich in Mira, die gleich schwanger wird. Das romantische Paar packt seine Habseligkeiten in einen Rucksack, gibt ein Abschiedsfest und fährt nach Bozen zurück.
Aber Bozen ist noch immer eine dreckige Stadt, die nicht auf das Liebespaar gewartet hat. Die örtliche Bibliothek kann keinen Paolo brauchen, obwohl er so gut grüßen kann. Zur Not begrüßt er jetzt in einem Klamottenladen derangierte Kundinnen. Wohin man schaut, alles ist verlogen und derangiert. Der Alkoholismus ist weit verbreitet, weil jeder Südtiroler, der einmal über sich nachgedacht hat, trinken muss.
Das politische Desaster lässt sich mit dem dreckigen Wort „Landesverwaltung“ zusammenfassen. (183) „Hier ist nur wichtig, dass es geil rüberkommt. Ich arbeite in der Landesverwaltung. Ich habe einen Verdienst. Ich habe die Zweisprachigkeitsprüfung bestanden. In Dialekt konnsch net oanfoch so lernen, woasch? Du machst einen Scheißdreck, hast du dich zugehörig erklärt zu einer Sprachgruppe?“
Mira hat inzwischen entbunden, die Tochter ist da, Paolo ist Vater. Und setzt soll die Sache mit den schmutzigen Wörtern weitergehen? Der Held packt mit stürmischem Gestus sein Kind und reitet als Erlkönig durch Bozen, vorbei an der Bibliothek, die ihn abgewiesen hat, an der Volksschule, an den dreckigen Wörtern, die auf dem Weg liegen hinaus zum Fluss.
Maddalena Fingerles „Muttersprache“ kommt, was Furor und Sprachdynamik betrifft, locker an das gleichnamige Wunderwerk Josef Winklers heran, dessen Muttersprache 1982 aus einem Kärntner Blickwinkel heraus die deutsche Literatur zur Wallung gebracht hat.
Maria E. Brunners (1957 in Pflersch geboren, lebt in Schwäbisch Gmünd) Übersetzung ist selbst eine literarische Leistung. Diesen Sarkasmus, dieses liebevolle Abwatschen der Südtiroler Pseudokultur kriegt nur eine Schriftstellerin hin, die selbst an diesem Stoff ein Leben lang gearbeitet hat.
Jahrzehntelang hat sich literarisch nichts getan im Musterland der Zweisprachigkeit und Autonomie, aber dieser Roman reißt alle Vorgartendekoration aus den Fundamenten und fegt als Wortsturm durch die Südtiroler Idylle.
Maddalena Fingerle: Muttersprache. Roman. A. d. Ital. Von Maria E. Brunner. [Orig.: Lingua madre, Triest 2021.] Bozen, Wien: folio 2022. 191 Seiten. EUR 22,-.
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