„Hier fehlen nicht nur Betten“
In den vergangenen zwei Jahren hat sich das Problem zugespitzt: Menschen mit Behinderung müssen zu Hause betreut werden, Personal ist mehr als knapp, die Werkstätten sind zu, der soziale Kontakt fehlt. Mutter Irmhild Beelen spricht offen über die Versäumnisse in der Sozialpolitik.
von Silke Hinterwaldner
Irmhild Beelen ist keine Frau, die gleich auf Angriff schaltet. Aber manchmal ärgert sie sich. Zum Beispiel dann, wenn sie tagelang in den Zeitungen liest, dass sich die Bürgermeister im Pustertal für die Gästebetten einsetzen, Protestbriefe schreiben und sich stark machen für den Tourismus.
Und was ist mit den Menschen mit Behinderung, fragt sie sich dann, mit all jenen, die nun schon seit zwei Jahren zu Hause sind, weil die Werkstätten und die Wohneinrichtungen nur noch bedingt arbeiten können? Was ist mit all den Familien, die bereits vor der Pandemie und jetzt umso mehr unter erschwerten Bedingungen den Alltag bestreiten müssen? Warum schreibt Robert Alexander Steger nicht auch für sie eine Protestnote nach Bozen? Denn immerhin: Steger ist Präsident der Bezirksgemeinschaft, die für die Sozialdienste und damit für die Betreuung der Menschen mit Behinderung zuständig ist. Zudem ist er Bürgermeister von Prettau, einer der vier Gemeinden im Tauferer Ahrntal, die schon vor zehn Jahren zugesagt hatten, eine betreute Wohneinrichtung zu schaffen. Aber noch immer ist nichts passiert.
Nina ist die Tochter von Irmhild Beelen, sie ist 42 Jahre alt und hat eine autistische Störung. Vor Corona hat Nina im Wohnheim des Trayah in Bruneck gewohnt und in der dazugehörigen Werkstatt gearbeitet, die Wochenenden hat sie bei ihrer Mutter in Luttach verbracht. Dass Nina mit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren ganz zu ihrer Mutter kam, scheint Irmhild Beelen nachvollziehbar. Sie ist seit einigen Jahren in Rente und hat somit die Möglichkeit, sich um ihre Tochter zu kümmern. Andere Familien haben diese Möglichkeit nicht. Deshalb konnten im Trayah einige wenige wohnen bleiben, etwa jene Menschen mit Behinderung, die keine Angehörige mehr haben. Mit 14. März darf nun auch Nina wieder zurück in die Wohneinrichtung, und sie darf zurück in die Werkstatt: ein wenig Normalität, auf die sie sich schon so lange freut. Denn: Die Menschen im Trayah sind für sie mehr als nur Arbeitskollegen, es sind ihre Freunde. Ganz abgesehen davon, dass ein strukturierter Tagesablauf für Nina extrem wichtig ist.
„Der Lockdown hatte auch etwas Gutes“, sagt Irmhild Beelen, „die Ruhe und die Spaziergänge ohne das Chaos rundherum haben Nina gutgetan.“ Aber das war‘s auch schon. Das Fehlen von Betreuungsmöglichkeiten und sozialen Kontakten hat es Mutter und Tochter schwer gemacht. Als die Großmutter von Nina vor einem Jahr im Sterben lag, mussten die beiden immer zwischen Luttach und Deutschland pendeln, allein für Tests haben sie über 1.000 Euro ausgegeben, aber vor allem die seelische Belastung war enorm.
Die sozialen Kontakte sind vor zwei Jahren plötzlich weggebrochen: Eine wichtige Stützte ist für Nina in dieser Zeit ein Projekt der Oberschulen. Bei „Hond in Hond“ gestalten die Schüler ihre Projekttage unter anderem mit Behinderten: Rund einmal im Monat unternehmen Schüler etwas mit Nina, basteln, Pizza essen, Spazieren gehen. Mittlerweile sind rund 200 Betreute und Schüler in das Projekt eingebunden. Manchmal sind es auch die kleinen Ideen, die Großartiges hervorbringen.
Tageszeitung: Frau Beelen, Sie sind mit Ihrer Tochter nun schon seit zwei Jahren zu Hause…
Irmhild Beelen: Ich will mich nicht beklagen und habe durchaus Verständnis dafür, dass in den Einrichtungen, die auf Sparflamme arbeiten müssen, jene unterkommen, die keine andere Möglichkeit haben. Das ist klar. Die Betten sind vorhanden, derzeit fehlt es aber an Personal. Wer im Dienst ist, muss nahezu rund um die Uhr und auf allen Posten arbeiten. Diese Menschen leisten Großartiges. Aber: Jahrelang wurde der Personalschlüssel nicht aufgestockt, die Berufsbilder wurden nicht angepasst, es gibt viele Versäumnisse, die sich durch die Pandemie verschärft haben. Diese Probleme lösen sich aber nicht von alleine, sobald Corona vorbei ist. Im Wohnheim in Bruneck stehen 30 Menschen auf der Warteliste.
Wie ist die Situation im Tauferer Ahrntal?
Die Werkstatt in Sand in Taufers ist auf Betreiben der Eltern Behinderter vor rund zehn Jahren entstanden. Sie ist übervoll, muss immer wieder ausgebaut werden. Es läuft wunderbar. So etwas benötigt man im ländlichen Raum. Kurze Entfernungen und ein gutes Netz sind wichtig. Auf alle Fälle wäre auch ein Wohnheim wichtig, darauf weisen wir seit 2013 hin. Damals gab es bereits 15 Familien, die eine Unterbringung benötigten.
Warum wurde bisher nichts gemacht?
Damals standen bereits die Posthäuser in Sand in Taufers zur Debatte, es ging um das ehemalige Hotel. Aber das Projekt ist gescheitert. Das Problem wird ständig hin- und hergeschoben. Nach den neuen Richtlinien für Teilhabe und Inklusion müsste jede Gemeinde Wohnraum schaffen, aber in Wirklichkeit haben diese Menschen keine Lobby. Der Bürgermeister von Sand in Taufers hat nun angekündigt, dass zeitnah in den Posthäusern etwas entstehen wird. Mit Vizebürgermeisterin Brigitte Gasser und Referentin Judith Caneppele war ich bereits vor Monaten in Kontakt. Mit zwei Wohneinheiten, also 10 bis 12 Plätzen im Doktorhaus könnten über die Bezirksgemeinschaft Wohnplätze für das Tauferer Ahrntal geschaffen werden und gleichzeitig die Werkstatt von Mühlen in den historischen Kern von Sand verlegt werden.
Die Pandemie scheint zu Ende zu gehen: Können die Menschen nun wieder zurück in die Werkstätten?
Je nachdem, was die Corona-Schutzmaßnahmen zulassen und inwieweit genügend Personal im Einsatz ist. In Bruneck können derzeit die Menschen aus dem Wohnheim in die Werkstatt. Jene, die von außerhalb kommen, und das sind wesentlich mehr, können höchstens an einzelnen Tagen kommen und werden meist kurzfristig benachrichtig. Die Situation ist in ganz Südtirol ähnlich. Notbetrieb oder Wochenendbetreuung fallen aus, aber auch in den Werkstätten wird kaum gearbeitet. Andere Eltern haben mich in den vergangenen zwei Jahren immer wieder angerufen, weil sie nicht mehr können. Die Situation in manchen Familien war und ist sehr, sehr belastend.
Was ist wichtig für die Zukunft?
Wir müssen eine Perspektive schaffen: Die Familien sind psychisch und physisch überbelastet, die Betreuten haben keine sozialen Kontakte mehr. Das ist schrecklich für diese Menschen. Es gibt sehr viel zu tun. Die Eltern hoffen sehr, dass es einige Quereinsteiger gibt, sodass man die Personalnot in den Griff bekommt. Dabei gibt es noch einige andere Probleme, etwa mit den Transporten. Weil wegen der Schutzmaßnahmen die Busse nicht mehr vollbelegt werden dürfen, müssen manche Eltern ihre Kinder mit dem eigenen Auto fahren. Das ist viel zu umständlich. Hier muss etwas getan werden. Es ist höchst an der Zeit. Und: Im Sommer haben die Einrichtungen normalerweise Ferien. In diesem Jahr aber sollte diese Schließungszeit ausgesetzt werden. Die Einrichtungen sollten offengehalten werden, insofern es genügend Personal gibt und die Möglichkeiten bestehen. Wir hoffen, dass sich viele Sommerpraktikanten melden. Man muss versuchen das Personal zu entlasten und gleichzeitig auch den Familien entgegenkommen.
Interview: Silke Hinterwaldner
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Kommentare (3)
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criticus
Ich möchte unsere PolitikerInnen heute nicht gerade beim Geld zählen stören. Aber, es wird Zeit, dass sich dieser mittelmäßige überbezahlte „Haufen“ endlich darum kümmert und sich nicht nur immer den Intrigen und Streitereien in den eigenen Reihen widmet. Genauso sollten jetzt wieder Altersheime für ältere betagte Personen geöffnet werden.
tirolersepp
Soforthilfe für die Ukraine – online bezahlbar:
https://nachbarinnot.orf.at/?story=313