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„Putin handelt völlig irrational“

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Die russische Invasion in der Ukraine und ihr Folgen für Europa: Der Wiener Politik-Analyst und Osteuropa-Experte Alexander Dubowy spricht über die Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Tageszeitung Online: Herr Dubowy, wir erleben gerade in Europa den ersten echten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Was hat der russische Präsident Putin vor?

Alexander Dubowy: Die russischen Zielsetzungen sind derzeit nicht gänzlich klar, aber wesentlich klarer als vor wenigen Tagen. Präsident Putin hat in seiner Rede in der Nacht sehr gute Anhaltspunkte geliefert, um was es ihm geht: Die Dekommunisierung, Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. In seiner pseudohistorischen Rede am Vortag hatte ja auch erklärt, die Ukraine habe ihr Territorium der Sowjetunion zu verdanken. Mit dem Begriff der Dekommunisierung der Ukraine meint er, wie man jetzt sieht, die Okkupation von Gebieten in der Ost- und Südukraine, wo heute (gestern Anm.) bereits russische Fahnen ausgehängt wurden. Es also über den Donbass hinaus.

Bisher war man im Westen davon ausgegangen, dass Putin es allein auf dieses Gebiet abgesehen habe.

Es ist keine Spezialoperation wie angekündigt, sondern eine vollumfängliche Annexion. Die russische Armee hat auch im Westen der Ukraine angegriffen, in Lemberg, und in der Hauptstadt Kiew. Es geht Putin um die Umsetzung der in der Nacht angekündigten Demilitarisierung der Ukraine, die Auslöschung der ukrainischen militärischen Infrastruktur.

Und was meint er mit Entnazifizierung?

Die besteht in nichts anderem, als die aktuelle ukrainische Führung auszutauschen. Putin hält ihre Machtübernahme im Jahre 2014 für nicht legitim und will deshalb nun einen Regime-Wechsel durchführen. Etwas, das der russische Präsident bisher den USA vorgeworfen hat, in Libyen oder im Irak.

Was hat die Ukraine militärisch der russischen Invasion entgegenzuhalten?

Die ukrainische Armee ist im Vergleich zu 2014, als sie in Bruchstück der sowjetischen Armee war, wesentlich modernisiert worden. Sie ist jetzt viel schlagkräftiger, aber Russland bei weitem nicht ebenbürtig. Sie ist aber stark genug, gegen Russland zu kämpfen.

Man muss sich also auf einen längeren militärischen Konflikt in der Ukraine einstellen, bei dem der Westen nicht eingreifen wird?

Ja, im Grund schon. Man muss natürlich abwarten, was täglich passiert, wir erleben ja den Krieg live mit. Russland hat jetzt alles in Kampf geworfen, auch indem es Kiew angegriffen hat. Wir sollten nicht naiv sein, dass Putin bald von dem militärischen Eingreifen in der Ukraine ablässt. Vorgestern hatte er noch erklärt, er strebe keine Okkupation an.

Was werden die von der EU und den USA angekündigten Sanktionen bewirken? Wahrscheinlich vorerst nichts.

Putin in seiner Rede vor dem Angriff erklärt, dass jene, die in den Konflikt eingreifen würden, mit Nuklearschlägen rechnen müssten. Bislang galt Putin als sehr rationaler Politiker, der seine Entscheidungen genau durchdenkt. Wir sehen aber, dass der allerletzte Rest der Rationalität verloren gegangen ist. Dieser Krieg kann Russland nur schaden. Persönlich ist es Putin ein großes Anliegen, die Ukraine-Frage endgültig zu klären und sicherzustellen, dass das Land zu einem militärischen Vorposten zur NATO wird. Das macht Russland aber selbst militärisch verwundbarer. Die Beziehungen zum Westen werden nun zu einem Nichts kommen. Die Sanktionen, die jetzt verhängt werden, werden härter sein, als man sie bisher gesehen hat. Die bisherigen Sanktionen waren das Ergebnis eines Kompromisses, damit ist es nun vorbei. Sogar der tschechische Präsident Präsident Milos Zeman, der als prorussisch gilt, hat den Ausschluss Russland aus dem SWIFT-Zahlungssystem gefordert. Westliche Firmen ziehen sich bereits jetzt aus dem Russland-Geschäft zurück, die UEFA vom geplanten Champions-League-Finale in St. Petersburg.

Gibt es weitere Eskalationsszenarien?  

Wenn die NATO in die Ukraine einmarschieren sollte, stehen wir vor einem Dritten Weltkrieg gegen einen irrationalen Diktator. Doch ich gehe davon aus, dass es nicht dazu kommen wird. Es wird aber  Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine geben.

Derzeit gibt es aber Krieg auf europäischen Boden wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Was wird aus Europa?

Für die EU ist mit der russischen Invasion in der Ukraine der Rubikon der Außensicherheitspolitik überschritten worden, es gibt kein Zurück mehr. Ich will nicht pathetisch sein, aber nun entscheidet sich, ob Europa zu einer gemeinsamen Außenpolitik gegen Russland fähig sein, oder ob wieder alles zerredet wird.

Eine voraussehbare Folge des Krieges ist ein Flüchtlingsdrama. In welchem Ausmaß?

Dass es bei einer Eskalation zu einer Flüchtlingswelle kommen würde, stand im Voraus fest. Schätzungen auf EU-Ebene gingen von einer Million Flüchtlingen aus – für den Fall, dass die Donbass-Region okkupiert würde. Jetzt haben wir aber Angriffe auf alle Landesteile. Ich gehe davon aus, dass die Visegrad-Staaten, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen 2015 sehr zurückhaltend waren, die große Zahl an Flüchtlingen aus der Ukraine vornehmlich aufnehmen werden. Auch aus Gründen der geographischen und kulturellen Nähe. Es werden vor allem Frauen und Kinder kommen, die Flüchtlingsstatus erhalten werden. Ein wichtiger Punkt ist auch die Anerkennung der vielen illegalen Arbeitsmigranten in der EU, die auch dazu gezählt werden müssten.

In der EU zeigen sich bereits die wirtschaftlichen Auswirkungen der Annexion. Wie teuer wird Gas werden?

Kurzfristig steigen die Öl- und Gaspreise, und zwar extrem. Ein Barrel Öl, das bisher bei rund hundert Dollar lag, ist an einem Tag auf 104 Dollar gestiegen und wird wohl bis auf 120 Dollar steigen. Der Erdgaspreis wird ähnlich ansteigen, worauf die Regierungen im Westen unwillkürlich reagieren müssen. Dass Russland den Gashahn abtreten wird, ist eher nicht zu erwarten, da es ja die Einnahmen braucht. Aber dass Putin imstande ist, die Gaslieferungen als Waffe einzusetzen, wissen wir. Das, was jetzt durch die Annexion Russland passiert, ist unerwartet, ungeheuer und irrational. Wir sind in einer neuen Epoche angekommen.

Was meinen Sie damit?

Es ist etwas geopolitisch völlig neues, dass Russland als Kriegspartei auftritt, das hat es bisher nicht gegeben.

Interview: Thomas Vikoler

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