Wolkenstein. Gassenhauer
Gerhard Ruiss bringt das alte Pergament von Oswald von Wolkensteins Gedichten zum Singen.
Von Helmuth Schönauer
Jetzt nach ein paar hundert Jahren kann man wohl eine Zwischenbilanz der Tiroler Weltliteratur ziehen und behaupten, dass Oswald von Wolkenstein darin der überzeugendste Dichter ist. Mit ihm verbindet man Emotion, Intellektualität, Internationalität und Musikalität. Alle diese Fähigkeiten erwarten wir von einem unverwechselbaren Künstler, womöglich soll er über Jahrhunderte diese Qualitäten ausstrahlen.
Oswalds „Tonträger“ liegen als Handschriften in diversen Archiven, unter anderem an der Universitätsbibliothek Innsbruck. Von Zeit zu Zeit werden sie herausgeholt, neu beforscht und ausgestellt.
Gerhard Ruiss kümmert sich schon seit Jahren um diese Texte, die er in drei Bänden nachgedichtet hat. „Und wenn ich nun noch länger schwieg“ (2007) / „Herz, dein Verlangen“ (2008) / „So sie mir pfiff zum Katzenlohn“ (2010)
Zwischendurch organisiert er Aufführungen, bei denen die Lieder als Neukompositionen zum Leben erweckt werden. Anhand dieser Updates zeigt sich das Zeitlose von Oswald, selbst in Zeiten der Pandemie, wo es kaum mehr Kontakte gibt, funktionieren diese emotionalen Flashes um Liebe, Reisen, Verlust und Flehen um Erhörung.
„Sie hat mein Herz getroffen, / die Schöne sei mir gut, / voll Sehnsucht will ich hoffen, / dass sie nichts lieber tut. / Wie ich mich an ihr freue, / zu ihr gehöre ich, / ich weiß an wen ich denke, / sie weiß es sicherlich.“
Das Wolkensteinprojekt fußt auf Arrangements von Reinhold Ruiss, Texten von Oswald von Wolkenstein und dem Gesang von Gerhard Ruiss, aus allen dreien ergibt sich das schöne Spruchband, das rund um das Album läuft: Ruiss-Wolkenstein-Ruiss.
Gemessen an den Zeiteinheiten, mit denen Oswald arbeitet, sind zwei Jahre Pandemie geradezu ein Wimpernschlag, aber dieses Unwuchtige in der Zeit spendet auch Gelassenheit und einen gewissen Trost bei der Einschätzung der Gegenwart. Da die geplanten Aufführungen immer wieder verschoben werden mussten, dient diese CD jetzt der Konservierung des Vorbereiteten und verkürzt das Warten auf jene Abende, an denen das große Gefühl wieder auf die Bühne steigt.
In einer Stimmung zwischen Balkongesang und Maskenparade wirken Gassenhauer besonders frech, erklingen doch plötzlich Lieder in der Öffentlichkeit und beschreiben etwas Intimes.
Wie verschreckt die Gegenwart ist, zeigt sich an scheinbar gewöhnlichen Szenen, worin ein Wirt nichts mehr zum Trinken herausrückt. Mittlerweile ist das Wirtsleben erstorben und die Lieder klingen wie von einem anderen Planeten.
„Der Wirt will uns nichts borgen, / ist meine größte Klag, / er fragt mich Nacht und Tag / um Geld. / Oh, Welt, / schäm dich, / was drückst du mich, / verfressener Wirt?“
Gerhard Ruiss überwindet mit diesem Projekt die eingedämmte Gegenwart, indem er sie mit einer Zeitkapsel aus dem 14. Jahrhundert aufbricht. Die CD spendet Trost und hält die Sinnesorgane offen für eine Zeit, wo es wieder Lärm und Lieder in den Gassen gibt.
Für Archivare und Bibliothekare, die oft im Gesellschaftsleben die Sinnfrage gestellt bekommen, ist das Wolkensteinprojekt eine Genugtuung, dass dieses Papier, das sie über Jahrhunderte bewahren, jederzeit zum Leben erweckt werden kann, wenn jemand ein Herz dafür hat.
Gerhard Ruiss ist so ein Erwecker, der das alte Pergament zum Singen bringt.
Gerhard Ruiss: Oswald von Wolkenstein. Gassenhauer. Zwölf Lieder. CD. Textbuch. (= Wolkensteinprojekt Nr. 2).
Wien: redpmusic 2021. EUR 17,99.
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