Zwei Welten
Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen. Leute, die aus dem Staat austreten wollen und die Rathäuser stürmen. Die Pandemie hat in zahlreichen Dörfern des Landes eine Parallelwelt entstehen lassen. Warum der Bürgermeister von Gais deshalb besorgt ist.
von Silke Hinterwaldner
„Das macht mir Angst“, sagt Christian Gartner. Er denkt bei diesem Satz nicht nur an das Heute, sondern auch an die Zeit danach. Denn: Was wird aus der Parallelgesellschaft, die es in Gais, aber auch in vielen anderen Gemeinden, gibt? Wie können die Menschen irgendwann wieder zusammenleben und zusammenarbeiten, wie es in einem Dorf an allen Ecken und Enden erforderlich sein wird? Wie wird die Pandemie die Dorfgemeinschaft verändern?
Der Bürgermeister von Gais blickt nun schon seit Monaten besorgt darauf, was Corona mit den Menschen macht. Dabei geht es nicht nur um jene, die mit schweren Krankheitsverläufen in die Klinik kommen, möglicherweise beatmet werden müssen und vielleicht sogar sterben. Es geht auch um die gesellschaftlichen Entwicklungen in einer Gemeinschaft, die immer weiter auseinanderdriftet – aber irgendwann wieder zusammenfinden sollte. Spätestens sobald die Kinder wieder in die Schule zurückkommen und sobald die Kollegen zurück an den Arbeitsplatz kommen.
Die Pandemie hat Tendenzen verstärkt, die vielleicht bereits zuvor vorhanden waren, aber jetzt zu vielen Problemen führen. Hier eine Episode aus dem Rathaus von Gais: Vor einigen Monaten hatten viele Gemeindeverwaltungen alle Hände voll damit zu tun, sich die so genannten Staatsverweigerer vom Leib zu halten. Damals kamen Dutzende von Personen in die Meldeämter der Gemeinden, um dort eine Bescheinigung zu hinterlegen, aus der hervorgehen sollte, dass die nicht länger Teil des italienischen Staates sein wollen. Diese Leute haben von den Gemeindebediensteten dann meist verlangt, die Erklärung zu protokollieren, um sie so amtlich erscheinen zu lassen. Welches Ziel man damit genau verfolgt, ist schwer zu sagen: Manche wollen keine Steuern oder keine Müllgebühren mehr bezahlen. Andere wollen eine parallele Gesellschaftsform erschaffen. Die Beamten in den Rathäusern waren anfangs überfordert mit derlei Forderungen. Auch in Gais. Dort war eine Gruppe von Staatsverweigerern mit besagter Erklärung vorstellig geworden („fast wie bei einem Überfall“). Einen Mund-Nasen-Schutz haben sie selbstverständlich auch nicht getragen. Sie haben auf die Gemeindebeamtin so lange eingeredet und sie dermaßen bedrängt, dass sie in Tränen ausbrach. Schließlich wurden die Carabinieri verständigt. Aber als die Ordnungshüter eintrafen, war die Gruppe bereits freiwillig abgezogen.
Nach mehreren derartigen Vorfällen hat der Regierungskommissär eine Losung für alle Gemeinden ausgegeben: Man dürfe diese Erklärungen und ähnliches schlicht nicht annehmen. Seither hat sich die Lage beruhigt. Nur noch vereinzelt, sagt Bürgermeister Gartner, komme jemand, der auf diese Weise aus dem Staat aussteigen wolle. Er weiß auch von den Nachbargemeinden, dass man in den Rathäusern einiges erlebt. In Mühlwald etwa wollte ein Mann seine Gesundheitskarte und seinen Ausweis in der Gemeinde abgeben, auch er Staatsverweigerer. Der Bürgermeister aber stellte schnell klar: Wenn man den Ausweis im Rathaus lassen will, müsse man auch den Führerschein abgeben. Damit war das Thema schnell erledigt.
Aber auch innerhalb der Rathäuser ist – wie in vielen anderen Arbeitsbereichen auch – die Lage mitunter schwierig. In der Gemeinde Gais, sagt der Bürgermeister, fehlen derzeit vier von 14 Mitarbeitern coronabedingt: Sie wollen sich weder testen noch impfen lassen. Das wiederum bedeutet für die Bürger, dass viele Dienste nicht vollständig abgedeckt werden können. Und für die Kolleginnen und Kollegen im Rathaus bedeutet dies Mehrarbeit, Überstunden, gestrichene Urlaube. „Irgendwann“, sagt Christian Gartner, „werden diese Leute zurück an den Arbeitsplatz kommen. Ich frage mich nur, wie gut man nach dieser Geschichte noch zusammenarbeiten kann.“ Die einen fühlen sich im Stich gelassen. Die anderen wollen sich nicht belehren lassen.
Das gilt umso mehr für einen weiteren Bereich, der die Gemeinde Gais national in die Schlagzeilen gebracht hat, ähnlich wie die Gemeinde Lajen. Immer wieder sind in den vergangenen Monaten Journalisten beim Bürgermeister vorstellig geworden, die über alternative Schulen berichteten. Denn: In Gais hat eine recht große Zahl an Eltern die Kinder von der Schule abgemeldet, um sie selbst zu unterrichten. In Wahrheit aber besuchen diese Kinder eine Betreuungsstätte in einem Bauernhaus: Hier müssen die Kinder nicht Maske tragen, es gibt keine Nasenflügeltests. Wie hier in Gais treffen sich auch in vielen anderen Gemeinden des Landes in derlei Einrichtungen Kinder von Impfgegnern, Staatsverweigerern und Querdenkern.
Christian Gartner distanziert sich von dieser Art der Kinderbetreuung. Er sieht die Rechte der Kinder in Gefahr, das ist in seinen Augen wichtiger als die Einstellung der Eltern: „Sobald man diese Kinder aus der Gemeinschaft herausreißt, muss man bedenken, dass sie irgendwann zurückwollen oder -müssen.“
Der Bürgermeister hatte anfangs noch das Gespräch mit jenen gesucht, die Kinder von der Schule abmelden und sich weder impfen noch testen lassen wollen. Aber mittlerweile versucht er sich rauszuhalten. Das klingt auf den ersten Blick resigniert, hat aber einen konkreten Hintergrund. Christian Gartner sagt: „Es hat einfach keinen Sinn. Es nützt nichts. Diese Dinge müssen von allein wieder ausheilen. Das alles wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.“
Noch ist es längst nicht soweit. Im Gegenteil. Derzeit klettert die Sieben-Tage-Inzidenz in sehr vielen Dörfern des Landes in ungeahnte Höhen. In Gais lag sie gestern bei 1.270, das korreliert laut den offiziellen Daten mit 64 aktuell Infizierten. Hier sind derzeit viele Familien betroffen, oft breitet sich das Virus im engen Verwandtenkreis aus, schnell sind so fünf oder zehn Leute betroffen. „Aber“, sagt der Bürgermeister, „wir haben auch davon gehört, dass sich Menschen bewusst mit dem Virus zu infizieren versuchen. Beweisen kann ich das nicht.“ Schließlich versucht er sich von derlei Bestrebungen fernzuhalten.
„Die Menschen haben sich entzweit“, sagt Christian Gartner, „das bereitet mir Sorge. Ich weiß nicht, wann und wie man wieder zusammenfinden kann. Derzeit leben wir in einer Ausnahmesituation, weshalb uns neue, wirklich große Schwierigkeiten noch bevorstehen. Das ist es, was mir Angst macht.“
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