„Missbrauchte Daten“
In Israel sind über 50 Prozent der Intensivpatienten vollständig geimpft. Für viele ein Zeichen dafür, dass die Impfung nicht wirkt. Der Biostatistiker Markus Falk macht den Faktencheck.
Viele Personen führen als Negativbeispiel für die Impfung Israel an. Dort machen über 50 Prozent der Corona-Intensivpatienten Geimpfte aus. Kann man das so stehen lassen?
Markus Falk: Bei absoluten Zahlen muss man aufpassen. Diese kann man nicht immer miteinander vergleichen. Wenn von 1.000 Personen 950 geimpft sind und die Impfung zu 90 Prozent wirksam ist, dann könnten bei vollständiger Hospitalisierung 95 Geimpfte im Krankenhaus landen. Bei den nicht Geimpften wären es aber maximal 50, sodass man absolut gesehen bei hohen Impfraten immer mehr Geimpfte unter den Fällen vorfinden wird als Ungeimpfte. Der Laie erwartet sich so etwas nicht und kann damit leicht in die Irre geführt werden. Um richtig zu vergleichen, muss man die Inzidenzraten verwenden, aber auch damit gibt es Tücken.
Wie hoch ist die Intensivrate derzeit in Israel?
Standardisiert man nach Alter, etwas das der Laie gern vergisst, dann liegen derzeit auf 100.000 nicht Geimpfte 70 auf Intensiv und von 100.000 vollständig Geimpften deren 7,8. Dies entspricht einer Wirksamkeit der Impfung von 89 Prozent. Absolut betrachtete liegen derzeit 252 nicht Geimpfte und 333 Geimpfte auf Intensiv. Man sieht also, dass absolute Zahlen gänzlich in die Irre führen können. Wendet man auf das Kollektiv der Geimpften die Intensivraten der nicht Geimpften an, so würden daraus 3.104 Intensivfälle resultieren. Die Impfung ist also höchst wirksam. Sie schützt aber eben nicht zu 100 Prozent, wie dies im Übrigen auch bei allen anderen Impfungen so der Fall ist.
Sie meinten es gäbe auch Tücken mit den Raten. Worauf muss man noch achten?
Wenn man es mit Beobachtungsdaten zu tun hat und somit nicht randomisiert wurde, kann sich das Simpson-Paradoxon ergeben. In England sterben unter den Geimpften derzeit mehr Personen als unter den nicht Geimpften. Einige glauben daher, dass Geimpfte eher an Covid sterben als Ungeimpfte. Aber auch das ist falsch. Man muss nämlich bedenken, dass in England nahezu alle Personen über 50 geimpft sind, unter 50 aber deutlich weniger. Da man mit zunehmendem Alter eher verstirbt, wird man unter den Geimpften auch mehr Covid-Todesfälle vorfinden als unter den nicht Geimpften. Auch hier muss man die Raten zunächst standardisieren, um vergleichen zu können. Hinzu kommt, dass unter den nicht Geimpften auch Genesene sind, die die Bilanz der nicht Geimpften verbessern, sodass die ermittelte Wirksamkeit eher als Untergrenze zu verstehen ist und somit sogar höher sein kann.
Sie sagen, Laien sind mit solchen Zahlen häufig überfordert, sie richtig zu verstehen. Wie kann man diese Zahlen zuverlässig interpretieren?
Dazu gibt es unseren Beruf beziehungsweise Personen, die sich professionell damit auseinandersetzen und die Wirksamkeiten publizieren. Im Bericht des ISS, der wöchentlich veröffentlicht wird, wird die Wirksamkeit der Impfung beispielsweise genau aufgeschlüsselt und wiedergegeben. Diese Daten zeigen beispielsweise, dass die Wirksamkeit in Italien bei vollständiger Impfung hinsichtlich einer Aufnahme im Krankenhaus derzeit bei 95 Prozent liegt. Wenn aber jemand selbst seine Rechnungen anstellt, dann kann man sich schnell täuschen, sodass bestimmte Gruppen diese Daten auch bewusst so aufbereiten, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Es wird also trotz Impfung Intensivpatienten geben. Wie viele könnte es in Südtirol geben?
Es gibt regelmäßig Hochrechnungen. Der springende Punkt dabei ist aber die zu erwartende Inzidenzrate, die allein vom Verhalten der Leute abhängt. In Israel wurde gänzlich übertrieben. Man hat alles kopflos laufen lassen und Inzidenzen im Prozentbereich – das sind über 1.000 auf 100.000 pro Woche – waren die Folge. Wenn ich die israelischen Inzidenzen auf Südtirols Bevölkerung und Impfraten umrechne, dann hätte man 100 Personen auf intensiv. Daran erkennt man, wie kopflos man in Israel unterwegs ist, trotz äußerst wirksamer Impfung. Man kann es nicht einfach laufen lassen und blind auf die Schutzwirkung der Impfung setzen, wie man es derzeit auch in Südtirol oft hört. Dies ist ein Irrtum und wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Impfung die alleinige Lösung aller Probleme ist.
Was muss man also tun?
Wir müssen große Infektionsherde vermeiden. Die Fälle in der Ferienkolonie der Caritas sind ein gutes Beispiel dafür. Infektion sind oft nicht vermeidbar, Infektionsherde aber sehr wohl. Es ist bei Gott nicht mehr nötig sich sofort zu verstecken, wenn die Fälle wieder ansteigen sollten. Man muss aber aufmerksam bleiben und nicht kopflos oder querköpfig daher laufen. Dies gilt beispielsweise für die Schulen. Es braucht Schutzmaßnahmen und Vorsicht, denn wir bekommen ansonsten eine Explosion der Fälle, wie wir sie bisher noch nicht gesehen haben.
Viele haben damit gerechnet, dass die Pandemie mit der Impfung zu Ende sein wird. Nun ist das nicht der Fall. Wann wird es so weit sein?
Ich habe Anfang des Jahres gesagt, dass uns die Pandemie noch gut zwei Jahre auf Trab halten wird. Mit der Impfung haben wir nun eine Grundimmunisierung erreicht, sodass der größte Teil vor einem schweren Verlauf geschützt ist. Zudem wird die Weitergabe des Virus deutlich erschwert, wenn nicht sogar gänzlich unterbunden. Vorbei ist die Pandemie hingegen erst, wenn eine vollständige Immunisierung erreicht ist, und hierfür wird man nicht nur einmal mit dem Virus oder der Impfung Bekanntschaft schließen müssen. Ein Szenario lässt die Entwicklung hin zur Kinderkrankheit vermuten, aber dies muss sich erst zeigen. Es gibt noch viele Unbekannte aber sich ist, dass wir mit der Impfung nun die Chance auf ein halbwegs normales Leben haben. Es gibt beispielsweise keinen Grund einen vollständig Immunisierten nicht arbeiten zu lassen. Tests, Masken oder Hygienemaßnahmen wird es aber weiterhin geben – und diese gelten auch für Geimpfte. Wenn wir eines haben, dann mit Sicherheit ein großes Talent dafür, uns mit Problemen auseinanderzusetzen, die derzeit nicht relevant sind, wie die Impfpflicht oder kostenpflichtige Tests. Gebraucht werden klare Perspektiven und Optimismus, denn wir haben nun mächtige Werkzeuge zur Hand, die sinnvoll eingesetzt, die die Pandemie früher beenden können als der pseudonatürliche und lebensgefährliche Weg.
Interview: Markus Rufin
Kommentare (38)
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