„Erschöpfte Köpfe“
TAGESZEITUNG Online: Herr Pycha, Corona treibt seltsame Blüten: Plötzlich werden Impfbefürworter zu Impfgegnern, die nur mehr den Facebook-Wahrheiten glauben und für keine Argumentation zugänglich sind. Was ist mit diesen Menschen passiert?
Roger Pycha: Eines vorweg: Es gibt Psychiatriepatienten, die haben extreme Angst vor Tests, eine Testphobie. Das ist eine kleinere Störung, sie ist inzwischen weitgehend überwunden. Vor allem Menschen mit Hals-Nasen- und Atemproblemen oder jene, die grundsätzlich schon angstgestört waren, waren davon betroffen. Inzwischen wissen wir alle: Die Abstriche sind zwar lästig, aber das Ganze dauert nur ein paar Sekunden. Wenn ich die Angst davor überwinde, bekämpfe ich meine beginnende Störung. Neuerdings gibt es aber auch so etwas wie eine Impfphobie. Sie ist häufig anders gelagert: Es geht um grundsätzliche Vorbehalte.
Die da wären?
Betroffene glauben, irreparable Schäden am eigenen Erbmaterial hervorzurufen. Menschen in Krise neigen dazu, immer einfacheren Botschaften zu glauben. Das heißt: Je erschöpfter ein menschliches Gehirn ist, desto eher sieht es nur mehr schwarz oder weiß und keine Farben. Nach eineinhalb Jahren Corona haben viele Menschen diesen hintergründigen Erschöpfungszustand erreicht. Sie wollen – ähnlich wie auf politischer Ebene knapp vor dem Zweiten Weltkrieg – ganz einfache Lösung. Die Nazis und Kommunisten hatten damals leichtes Spiel. So ist das Phänomen zu erklären, das wir jetzt erleben: Viele Leute sagen: Ich mach da nicht mehr mit, ich steige aus, weil ich das Recht dazu habe. Umgekehrt erbost sich jetzt die Mehrheit darüber, dass sich eine Minderheit nicht gut genug schützt und damit die Gesundheit aller riskiert.
Wie soll das Umfeld auf solche Menschen reagieren?
Auch auf Dialog setzen. Der Verhandlungsweg ist immer jener, der auch gewählt werden muss. Ich habe den Eindruck, dass man mit einem Bevölkerungsteil konfrontiert ist, der des Argumentierens müde ist und sich ausklinkt. Ähnlich wie die Aussteiger, die sagen, sie sind nicht mehr Staats-, sondern Weltbürger, die in den Wald ziehen und ihre Kinder selbst unterrichten. Dies ist zwar eine verständliche, aber eine absolut verkürzte, unkluge Lösung. Gewissermaßen eine Kurzschlussreaktion.
Wie überzeugt man diese Menschen?
Wir werden nicht umhinkommen, strenge Regeln einzuführen: Es darf nur jenen Bewegungsfreiheit erlaubt werden, die geimpft oder genesen sind. Denn das ist die Regel der Vernunft. Jene Menschen, die diese Vernunft nicht akzeptieren wollen, muss man zwar nachsichtig begegnen, aber in der Regel unerbittlich sein. Das ist das Gebot der Stunde. Das heißt: Wir sollten zwar versuchen, Grabenkämpfe zu vermeiden und diese Menschen nicht zur Gänze ausgrenzen. Umgekehrt sollte die Regel sein, dass die Bewegungsfreiheit derjenigen, die sich nicht impfen lassen, stark eingeschränkt wird. Diese müssen dann entscheiden: Will ich mich dieser Einengung fügen oder brauche ich mehr Freiheit und riskiere ich die Impfung.
Es sind Personen zu Impfgegnern geworden, von denen es niemand erwartet hätte…
Es kann jedem Menschen passieren, wenn er erschöpft genug ist. Wir wissen jetzt nicht, was der Einzelne durch die Krise erleidet oder erlitten hat – wie sehr die Person psychisch oder sozial mitgenommen wurde, wie sehr sie unter der Isolation oder der wirtschaftlichen Beeinträchtigung gelitten hat und leidet. Das sieht man dem Einzelnen nicht an, es sind unsichtbare Wunden, die wir im Einzelfall nicht berücksichtigen können. Diese Menschen reagieren abwehrend und verweigernd, sie wollen mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben. Ich bin überzeugt, dass rund ein Drittel der Impfgegner eigentlich keine Impfgegner sind, sondern nur Verweigerer des Wahrnehmens der ernsten Gefahr. Sie tun einfach so, als gäbe es keine Gefahr. Dieses Drittel können wir im richtigen Moment und mit einer günstigen, einladenden Haltung dann doch gewinnen. Den ideologischen Grabenkämpfern müssen wir zwar ihren Willen lassen, jedoch auf Kosten der Bewegungsfreiheit.
Das Umfeld ist mit solch einem Sinneswandel überfordert, Freund- und Partnerschaften gehen zu Bruch, weil diese Menschen für jegliche Argumentation unzugänglich sind…
Das Schwierige dieser Minderheit ist, dass sie sich in der Lage befindet, wie Südtirol zu Optionszeiten. Damals mussten sich die Südtiroler entscheiden. Zwischen zwei Übeln das kleinere zu wählen, ist eine sehr schwierige Entscheidung. Rational betrachtet ist die Impfung die viel klügere Entscheidung, aber wenn Leute intensive Vorbehalte gegen die Impfung haben, wissen sie nicht, was sie tun sollen. Dann tun sie eines: Sie suchen den Kontakt zu Gleichgesinnten. Dann bilden sich nicht mehr Diskussionsgruppen, sondern Lager. Wenn sich Menschen zu Gruppen zusammenrotten, wird es schwierig. Sie bleiben bei ihrer Meinung und wollen nichts anderes mehr hören. In der Demokratie können wir das nicht verhindern. In Ländern wie China oder Russland ist so etwas kein Problem, da wird der Staatsbürger einfach vergewaltigt. Nur im Extremfall werden bei uns die Pflichtimpfungen vorgeschrieben. Im Augenblick überlegen sich aber gerade Demokratien, diesen Weg einzuschlagen und dessen Gefahr sind sich die Impfgegner bewusst. Sie fühlen sich bereits vorvergewaltigt und rotten sich intensiver zusammen, um sich besser in der Gemeinschaft wehren zu können. Ich würde dafür plädieren, die Angst, die dahinter steckt, zu suchen. Diese Angst ist ein Symptom, ein Zeichen der Schwierigkeit, der Erschöpfung, bei manchen auch ein Krankheitszeichen.
Wie soll das Umfeld mit dieser ihr fremd gewordenen Person umgehen?
Die Person ist ja trotzdem mein Freund, mein Partner. Ich muss ihre Fähigkeiten und Rollen weiterhin akzeptieren und bestärken. Sie denkt in dieser Sache anders und ich habe dies zu akzeptieren. Sie hat zu akzeptieren, dass sie in Zukunft deutlich weniger Freiheiten haben wird als ich.
Diese Personen sind für jegliche Argumentation unzugänglich. Mehr noch: Sie beschimpfen die Impfwilligen als unwissend, als Trottel, die die ganze Lage nicht durchblicken…
Erschöpfte Gehirne sind vergleichbar mit Menschen mit verminderter Intelligenz: Schwer gestresste Menschen reagieren wie Personen unter Drogen, akzeptieren nur mehr vereinfachte Muster. Wir müssen sie im richtigen Moment auf die richtige Weise animieren, die Impfung dennoch zu „riskieren“. Das Umfeld soll weiter argumentieren, aber ruhig, verständnisvoll und nachsichtig. Solange es keine Pflichtimpfung gibt, haben sie das Recht, sie zu verweigern. Die Toleranz ist wesentlich.
Brauchen diese erschöpften Hirne schon eine Therapie?
Kaum jemand wird sich aufgrund seiner Impfgegnerschaft in eine psychologische oder psychiatrische Therapie begeben. Ich habe aber Patienten, die diese Unsicherheit doppelt und dreifach verstärkt erleben. Und genau bei solchen Menschen, die mir vertrauen, ist es möglich, Vorbehalte auszuräumen und sie zu einer Impfung zu bewegen.
Corona hat viele Menschen psychisch krank gemacht?
Corona hat ganz sicher viele Menschen psychisch krank gemacht, und psychisch Kranke tendenziell kranker.
Interview: Erna Egger
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