„Toxische Umklammerung“
Der Psychiater Paolo Crepet lässt kein gutes Haar am Amtsgutachten im Fall Benno Neumair: Ein Mensch könne nicht um 17.00 Uhr nur teilweise und eine Stunde später wieder voll zurechnungsfähig sein.
von Artur Oberhofer
Als vor wenigen Tagen die ersten Indiskretionen zum Inhalt des psychiatrischen Super-Gutachtens im Fall Benno Neumair durchsickerten, war die Überraschung groß. Auch bei Paolo Crepet, einem der bekanntesten Psychotherapeuten Italiens. „Ich war überrascht“, gestand Crepet dem „Corriere della Sera“, „und ich kann auch verstehen, wenn die Menschen mit der Ratio der Schlussfolgerungen in dem Gutachten ihre Schwierigkeiten haben.“
Die Amtsgutachter Eraldo Mancioppi, Marco Samory und Isabella Merzagora diagnostizierten bei Benno Neumair eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sowie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, also eine Soziopathie.
Der Kern des Super-Gutachtens: Benno Neumair sei zum Zeitpunkt des Mordes an seinem Vater nur teilweise zurechnungsfähig gewesen. Durch die wiederholten Vorwürfe seines Vaters sei Benno Neumair in seinem Narzissmus gekränkt gewesen. Für den Gewaltausbruch sei die dissoziale Persönlichkeitsstörung verantwortlich gewesen, denn diese Krankheit sei mit einer geringen Frustrationstoleranz, der Unfähigkeit zum Mitgefühl und mit aggressivem Verhalten verbunden.
Der durch die Vorwürfe des Vaters verursachte Stress habe dazu geführt, dass Benno Neumair seinem Aggressionsimpuls nachgegeben habe.
Dagegen sei der 30-Jährige – immer laut den Gutachtern – zum Zeitpunkt der Tötung der Mutter voll zurechnungsfähig gewesen.
Viele Menschen in Südtirol fragen sich seitdem: Wie kann das sein? Kann eine Person um 17.00 Uhr nur teilweise und um 18.00 Uhr wieder voll zurechnungsfähig sein?
Paolo Crepet schickt voraus, dass es sehr wichtig wäre, wenn Psychiatrie und Justiz sich aus ihrer „toxischen Umklammerung“ lösen würden. Crepet will auch keine Kritik an seinen Kollegen üben, im Gegenteil, den Gutachtern gebühre Dank, dass sie mit diesem Gutachten eine Diskussion losgetreten haben.
Gleichwohl macht Paolo Crepet keinen Hehl daraus, dass er die Kernthese des Gutachtens nicht nachvollziehen kann. Crepet: „Die Geisteskrankheit ist keine vorübergehende oder schubweise auftretende Erkrankung.“ Außerdem sei eine so schwerwiegende Erkrankung nicht kompatibel mit den Lügen, Interviews und mit den Ablenkungsmanövern des Beschuldigten, so Crepet.
Der bekannte Psychotherapeut kann auch die klinischen Untersuchungen, die die Gutachter vorgenommen haben, nicht nachvollziehen.
Es waren die Gutachter der Verteidigung, die irgendwann die Geschichte vom Mörder-Gen ins Spiel brachten – die Theorie des Cesare Lombroso.
Die anthropologische Kriminalitätstheorie des italienischen Arztes und Psychiaters Cesare Lombroso geht davon aus, dass Kriminalität anlagebedingt, also genetisch erklärbar ist.
Kernthese seiner Theorie ist die Annahme von dem geborenen Verbrecher. Es gibt demnach den Kriminellen, dessen abweichendes Verhalten unvermeidlich ist. Der Verbrecher sei nicht in der Lage, sich für oder gegen ein Verbrechen zu entscheiden, sondern handle vollständig unfrei und determiniert. Das Ergebnis seiner Untersuchungen veröffentlichte Lombroso in seinem erstmals 1876 erschienen Hauptwerk „L’Uomo Delinquente“ (Der kriminelle Mensch).
Lombrosos Theorien entsprachen im 19. Jahrhundert wohl dem wissenschaftlichen Standard, aber sind längst nicht mehr zeitgemäß und überholt. Deswegen sagt auch Paolo Crepet in Richtung Verteidigung: „Man kann diese Theorie nicht herausziehen, wenn sie einem bequem ist.“
Und weiter: „Wenn wir diese Theorie für gut befinden, dann müssen wir ein Screening der gesamten Bevölkerung machen und alle, die diesen Defekt haben, einsperren. Als potentielle Mörder. Wenn ich Gutachter wäre, würde ich nicht auf dieser Straße weitergehen.“
Paolo Crepet sagt denn auch: „Ich bin verblüfft über die klinischen Untersuchungen. Was glaubten die Gutachter durch eine Computertomographie oder durch ein Elektroenzephalogramm herauszufinden? Welchen Sinn macht es, nach krankhaften Veränderungen im Gehirn zu suchen? Und wie gelangt man zu der These: das Subjekt war zum Zeitpunkt des ersten Mordes krank und eine Stunde später nicht mehr?“
Wenn ein Delikt im Jahr 1995 passiert wäre und das zweite 2019 wäre dies laut Crepet möglich. „Aber nicht im Abstand von einer Stunde.“
Die Gutachter müssten wissenschaftlich erklären, was in dieser Stunde passiert ist.
Nichtsdestotrotz: Auch wenn das Gericht am Ende der These der Gutachter folgen würde, dass Benno Neumair zumindest bei der Tötung der Mutter voll zurechnungsfähig war, würde dies für Lebenslang ausreichen.
Insgeheim geht Paolo Crepet allerdings davon aus, dass der Fall Benno Neumair sich zu einem juristischen Schachspiel entwickeln könnte, wo es nicht mehr so sehr um die Findung der Wahrheit, als vielmehr darum geht, welche Prozesspartei die geschickteren Winkelzüge anwendet.
Paolo Crepet fände es „obszön und ethisch nicht vertretbar“, falls Benno Neumair, der Doppelmörder, in den Genuss eines automatischen Strafnachlasses im Ausmaß eines Drittels der Gesamtstrafe gelangen sollte. Crepet: „Die Botschaft solche Gesetze für unsere Kinder lautet: Wenn man die Eltern umbringt, bekommt man nicht lebenslang, sondern nur 25 Jahre Gefängnis; und bei guter Führung wird man dem Sozialdienst zugewiesen, das heißt: nach ein paar Jahren ist der Täter wieder frei.“
Paolo Crepet ist davon überzeugt, dass Benno Neumair zum Zeitpunkt der Taten voll zurechnungsfähig war. Und der Psychiater warnt: „So ein Gutachten könnte aber dazu führen, dass die Richter eher zur These der Verteidigung tendieren, und wenn man von Unzurechnungsfähigkeit ausgeht, riskiert man, dass der Angeklagte für keine der beiden Straftaten verurteilt wird.“
Für Paolo Crepet ist der Fall Benno Neumair in vielen Aspekten ein Präzedenzfall. „Der Fall Neumair ist Fall fürs Lehrbuch“, so Crepet. Dessen müssten sich auch die Richter bewusst sein. „Die Richter, die ein Urteil in diesem Fall sprechen werden, haben eine Herkulesaufgabe zu bewältigen und sie müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein, denn der Geist des Urteils wird weit über diesen spezifischen Fall hinauswehen.“
Paolo Crepet wäre neugierig, was Madè Neumair, die Schwester des Beschuldigten, zum psychiatrischen Amtsgutachten sagt. „Madè“, so der Psychiater, „ist die einzige Person auf dieser Welt, die weiß, ob die Gutachten glaubwürdig sind oder nicht.“
Und sollte Benno Neumair tatsächlich für unzurechnungsfähig erklärt werden, wäre die Schwester in Gefahr, glaubt Paolo Crepet. Der Psychiater: „Wenn er geisteskrank und somit nicht schuld- und straffähig ist, würde er bald in unsere Gemeinschaft zurückkehren. In diesem Fall stelle ich mir die Frage: Wer schützt diese junge Frau? Vielleicht möchte Benno sein Werk ja vollenden. Man müsste Madé Begleitschutz für ihr ganzes Leben gewähren.“
Benno Neumair war, also, nach Ansicht von Paolo Crepet zum Zeitpunkt der Tat zurechnungsfähig. „Benno ist eiskalt, unsensibel, narkotisiert, aber deswegen nicht verrückt, schizophren, aber die Unsensibilität ist kein Grund für einen Strafnachlass.“
Die Rolle der Gerichtsgutachter sieht Paolo Crepet so: Die Sachverständigen sollten eine Hilfe für die Richter sein, aber sie müssten auch respektvoll mit den Opfern umgehen.
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Kommentare (16)
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andreas
Eigentlich ist es international unter Fachleuten üblich, keine Ferndiagnosen zu stellen, wenn man den Patienten nicht gesehen hat.
Auch gibt es durchaus aktuelle Forschungen zum „Mördergen“ und einige Wissenschaftler sind überzeugt, dass es mittel- bis langfristig möglich ist, vorab Tendenzen zu erkennen und zu „heilen“. https://www.google.com/amp/s/www.spiegel.de/kultur/gefahr-bei-xyy-a-8e6d3991-0002-0001-0000-000046050159-amp
Es gab mal einen besseren Artikel im Spiegel, finde ihn aber nicht.
Warum sollte aber die Schwester die Einzige sein, welche sogar wissen soll, ob das Gutachten glaubwürdig ist? Meines Wissens ist sie keine Psychiaterin und wohnte die letzten Jahre nicht in Bozen, hatte also so gut wie keinen Kontakt.
Eigenartig die Aussagen dieses Typen, ein Pycha würde sich wohl niemals aus der Ferne so konkret festlegen und komische Thesen aufstellen.
gorgo
Scheint ein komischer ‚Plouderer‘ dieser Typ und wo er das Gutachten auseinandernimmt habe ich auch nicht ganz verstanden.
Das auch organische Untersuchungen gemacht werden müssen, steht wohl ausser Frage, auch um z.B. einen Tumor auszuschließen.
Ab wann eine Persönlichkeitsstörung einem klar definierten Krankheitsbild zuzuordnen ist, eine andere.
Die Welt ist von von Typen mit psychopathischen und dissozialen Persönlichkeitsmustern.
Aber die sehen da kein Problem. Leiden tut ja nur ihre Umgebung.
andreas
Das Unsinnigste was er sagt ist sowieso das zur Schwester, denn damit sagt er indirekt, dass Typen wie er eigentlich überflüssig sind, da die Verwandten es besser wissen.
Ich bin z.B. überzeugt, dass uns unsere Nachfahren in 100-200 Jahren als Barbaren ansehen werden, so wie wir die Hexenverbrennung im Mittelalter, da wir Leute aus mangelndem Wissen ins Gefängnis sperren.
Und wenn sie hier im Forum lesen, denken sie wohl, dass es zu der Zeit vielleicht ein paar Idioten gab. 😉
george
@andreas
Eigenartig die Aussagen des „Typen“ ‚andreas‘, genauso wie die eines Paolo Crepet. Beide urteilen aus Ferne mit dem großen Unterschied, dass ‚andreas‘ kein Psychiater ist und glaubt zu wissen, wie „ein Pycha“ (welcher Pycha?) sich festlegen würde.
andreas
Es gibt weit aktuellere Studien als die aus dem 19. Jahrhundert, warum geht er nicht auf die ein?
Und dass nur die Schwester die Glaubwürdigkeit der Studie bestätigen kann, ist absoluter Blödsinn.
Wenn man ein paar Interviews von Pycha gelesen hat, ist es nicht schwierig zu verstehen, dass er seine Ferndiagnosen nie als absolute Wahrheit hinstellt und immer pauschal bleibt.
Jedenfalls ist Pycha eine Koryphäe auf seinem Gebiet und ein international anerkannter Fachmann.
Dieser Crepet scheint so ein Fernsehtherapeut zu sein, so eine Art italienischer Lauterbach.