Berg and Breakfast
Die Natur lässt sich nicht durch sanften Tourismus, sondern durch abwesenden Tourismus schützen: Selma Mahlknechts Essay über den Moloch Tourismus.
Von Helmuth Schönauer
Tourismus ist wie Sex, wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ist er kaputt. Themen wie dieser Witz lassen sich am ehesten durch das Format Essay abarbeiten. Im Essay darf nämlich auf gesicherten Fakten subjektiv nachgedacht werden.
Selma Mahlknecht verbindet im Titel ihres Essays das Sehnsuchtselement Berg mit dem handfesten Frühstück, das Hardcore eingenommen wird. Beim Thema Tourismus geht es nämlich immer um Bilder, die als luftige Vorstellung vorausreisen, ehe der Körper handfest hinterher reist, um sie zum Platzen zu bringen wie die sprichwörtliche Seifenblase.
Da der Tourismus 100 % eines Landes überwuchert, wenn er einmal ins Land gekommen ist, gibt es auch niemanden, der sich ihm entziehen kann. Einerseits handelt es sich um ein Weltphänomen, das singulär nicht gelöst werden kann, andererseits geht es um das Durchtauchen des Individuums, also mehr oder weniger um singuläre Überlebensstrategien.
Tourismus-Essays bedienen klugerweise immer drei Felder, nämlich Geschichte – Weltlage – Individuum. Der Ausblick schreibt diese Felder fort, denn eines zeigt jede Art von Geschichte, es gibt nie ein Zurück.
Die Autorin verwendet Interviews mit Zeitzeugen aus Südtirol und der Schweiz, um authentisch über „Berg und Breakfast“ zu philosophieren. Eine berührende Quelle ist dabei ihre Großmutter, die ein Leben lang in Naturns eine kleine Pension geführt hat und am Ende mit einer Kleinrente in der Kleinpension übrig geblieben ist. Ihren Gästen ist es in deren Berufen vielleicht ähnlich ergangen. Das wäre dann das Gute am Tourismus, dass er keine Spuren hinterlässt, außer das erlebte Leben. Wenn er nur nicht so viel Unheil anrichtete, weil er ja ein Problem der globalen Erdvernichtung geworden ist! Sobald wir vom Berg sprechen, meinen wir den zurecht gerichteten Berg und die dressierte Natur. (29) Eine erste Faustregel gegen die Vernichtung könnte lauten: Pro 1000 km Anreise muss man mindestens eine Woche bleiben. (38) Eine zweite lautet später: Gib dem Ort soviel zurück, wie er dir gibt. (57)
Und hier ist ein Schnellkursus in Tourismusgeschichte fällig. Bei den Ägyptern gab es nur eine Reise, nämlich die ins Jenseits. Später hat sich daraus das Bild entwickelt, dass man Teile dieses Jenseits ja ins Diesseits holen könnte, um in den Genuss einer erlösenden Reise zu gelangen. Die Glücksbilder wurden dabei immer in Großstädten theoretisch für das Land entworfen. So ist Heidi, der Inbegriff schweizerischen Alm-Glücks, eine Schreibstuben-Erfindung aus Zürich. Der Wort-Nomade Christoph Ransmayr nennt als Antrieb für seine Reisen ans Ende der Sprache und der Welt: „Ahnungslosigkeit, Sprachlosigkeit, leichtes Gepäck, Neugier“. (53) Dahinter steckt jedenfalls die dritte Faustregel, dass man sich die Reise selbst zusammenstellen muss und nicht als Pauschalereignis buchen darf.
Aus diesen Maßnahmen ist auch eine scheinbar gottgewollte Moral gespeist: „Wer reist, ist gut. Wer nicht reist, ist irgendwie geschädigt.“ (50)
Aus der gemeinsamen Geschichte aller Tourismusbetreiber haben sich ungeschriebene Gesetze entwickelt, die überall auf der Welt gelten und kaum vom Individuum beeinflussbar sind.
„Wer nicht Chef wird, kann immer noch Kundschaft werden.“ (64) / „Ein lausiges Angebot zieht lausiges Publikum an.“ (68) / „Die Tourismusindustrie lebt von Freiräumen, die aber durch Nutzung zerstört werden.“ (117)
Die Autorin erzählt die Fabel vom Hasen und Igel um und meint, der Einheimische habe keine Chance gegen den Touristen, denn dieser sei immer schon dort, weil er als Cluster auftritt, und somit unschlagbar ist.
Aber selbst die Touristen müssen ständig früher aufstehen, um noch etwas von ihrem gebuchten Freiraum zu erleben. Berüchtigt sind die Schwadronen am Morgen, die mit Handtüchern den Strand markieren. In den Alpen müssen die Menschen, die noch etwas von der Natur sehen wollen, schon in der Nacht losmarschieren, um der Tages-Meute von Bergwanderern und Gipfelstürmern zu entkommen.
Natürlich gibt es ein probates Mittel gegen diesen Overtourismus, es heißt „Vergrämung“. Wenn wir im Tourismus jene Maßnahmen anwenden, die wir zur Zeit gegen die Migrationsmenschen fahren, dann wären die Dörfer wieder für Einheimische begehbar. Deshalb fürchtet die Tourismusindustrie nichts so sehr wie die Ablehnung durch die Einheimischen, weil diese das Geschäft ordentlich versauen können, wenn sie nicht im Sinne des Tourismus spuren.
Die öffentlich durchgespielten Maßnahmen gegen den Moloch Tourismus sind letztlich alles Ablenkungen und Wording. Die schöne Parole über die Alpentäler „vorne nützen, hinten schützen“ (135) sind ebenso Augenauswischerei wie die Bezeichnung „Streuhotel“, wenn ein entkerntes Dorf als Generalhotel im Gemäuer ehemaliger Häuser genutzt wird. Philosophisch formuliert ‒ es nützt nichts, den falschen durch richtigen Konsum zu ersetzen (195). Die Natur lässt sich nicht durch sanften Tourismus, sondern durch abwesenden Tourismus schützen. (198)
So lange auf der Welt die Arbeitsverhältnisse so gestaltet sind, dass man ausgezehrt einen Ortswechsel braucht, um psychisch zu gesunden, läuft der Tourismus schon von der Wurzel weg falsch. Erst wer in die Lage versetzt ist, zu Hause gesund sein Leben zu verbringen, sollte sich auf den Weg in den nächsten Stau machen. Wer einen Urlaub nötig hat, ist in Wirklichkeit arm dran. Bleib am Ort, müsste die Parole heißen.
In diesem Feld könnten sich dann sinnvolle Ortswechsel ergeben, wie das Studieren in einem anderen Land, oder das Modell Arbeitsmigration, wo man eine Saison lang zum fremden Einheimischen wird, mitgestaltet und nicht nieder-gedumpt wird.
Sehnsüchte und Ernüchterungen, nennt Selma Mahlknecht ihren Essay. Sie lässt den Gedanken frechen und freien Lauf, ist aber behutsam in ihren Forderungen. Zu sehr lebt sie selbst als eine von uns Leserinnen in diesem Panorama voller Sehnsüchte, die in der Hochsaison im Minutentakt zerplatzen. Es scheint, als wolle niemand freiwillig diesen Tourismus, aber was zwingt uns wirklich in dieses Desaster?
Selma Mahlknecht: Berg and Breakfast. Ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen. Bozen: Raetia 2021. 219 Seiten. EUR 22
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