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„Habe mich nicht bereichert“


Arno Kompatscher schließt – anders als im Vorjahr – einen Lockdown im Herbst nicht aus. Im Interview warnt der LH vor der Delta-Variante und dementiert Gerüchte über eine Wohnung in Davos.

Tageszeitung: Herr Landeshauptmann, seit dieser Woche ist Südtirol weiße Zone. Passend dazu wurden am Montag zum ersten Mal in diesem Jahr weder Neuinfektionen noch Todesfälle festgestellt. Ist das ein Etappensieg? Oder befinden wir uns im Kampf gegen das Coronavirus bereits auf der Zielgeraden?

Arno Kompatscher: Ich würde eher von einem Etappensieg sprechen. Wir weisen gute Zahlen auf und freuen uns natürlich über die positive Entwicklung, die uns auch die jüngsten Öffnungsschritte ermöglicht hat. Ansonsten hätten wir die Maskenpflicht im Freien nicht so abändern können, dass sie nur noch dort gilt, wo man den Abstand nicht einhalten kann oder es zu Menschenansammlungen kommt. Auch Festveranstaltungen sind jetzt dank der guten Entwicklung wieder möglich. Was uns aber Sorgen bereitet, ist die nachlassende Impfbereitschaft der Menschen. Wenn wir glauben, dass wir die Impfung derzeit nicht brauchen und dafür bis Herbst warten können oder uns überhaupt nicht impfen lassen, machen wir einen riesigen Fehler, den wir möglicherweise teuer bezahlen. Es geht nicht darum, den Menschen Angst zu machen. Wir haben aber die Sorge, dass zu viele glauben, dass die Krise schon vorbei sei. Dabei hatten wir auch im vergangenen Sommer keine Probleme, bis im Herbst die Infektionszahlen wieder stiegen. Diesen Fehler dürfen wir nicht noch einmal machen.

Sie befürchten, dass sich das Szenario aus dem vergangenen Jahr wiederholen könnte?

Im vergangenen Sommer hatten wir noch keine Impfstoffe. Es wäre absurd, die Menschen daheim einzusperren oder überall eine Maskenpflicht vorzuziehen, wenn das Infektionsgeschehen flach ist. In so einer Situation läuft das Infektionsgeschehen still schleichend im Hintergrund weiter, bis es irgendwann wieder sprunghaft nach oben steigt. Das ist die Lehre aus dem Sommer 2020. Heuer haben wir aber mit den Impfungen die Chance, das zu verhindern. Man sieht ganz eindeutig, wer derzeit schwere Krankheitsverläufe aufweist, nämlich die Nichtgeimpften. Natürlich kann ich mich auch nach einer Impfung noch mit dem Virus anstecken, ich habe aber keinen schweren Verlauf und lande auch nicht im Spital. Wenn wir das den Menschen nicht vermitteln können, verpassen wir eine Riesenchance. Deshalb gehen wir ganz stark auf die Leute zu, um sie zu überzeugen. 

Südtirols Impfquote liegt bei 45 Prozent – und ist damit noch weit von den für Ende August angepeilten 70 Prozent entfernt.

Was schreckt so viele Menschen nach wie vor davon ab, sich impfen zu lassen?

Wir sind von den 70 Prozent relativ weit entfernt. Man kann nicht alle Menschen, die sich nicht impfen lassen, in einen Topf werfen. Es ist eine sehr heterogene Gruppe: Auf der einen Seite gibt es die radikalen Verweigerer – auch der Realität –, die glauben, dass es keinen Virus gebe und das alles von einer Lobby, die damit Geld machen wolle, erfunden worden sei. Diese Gruppe halte ich für eher klein. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele, die skeptisch bis nachlässig sind und glauben, dass die Impfungen nicht mehr notwendig seien. Solche Meldungen wie die am Montag mit null Neuinfektionen könnten kontraproduktiv sein, weil sie den Eindruck vermitteln könnten, dass sich ohnehin keiner mehr anstecke. Diese Menschen sind aber durchaus erreichbar für Argumente. Deshalb wollen wir sehr bürgernah in den Gemeinden über die Bürgermeister und Vereine ein Bewusstsein schaffen für die Tatsache, dass es uns im Herbst gut geht, wenn wir diese Chance mit den Impfungen jetzt nutzen. Sonst riskieren wir sehr, dass es uns im Herbst nicht gut geht. Das wäre unverzeihlich. Dann kann aber keiner sagen, die Politik hätte im Sommer ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Der Impfstoff ist da, die Anmeldung läuft unkompliziert ab, die Impfung dauert nicht lange – das kann jeder bestätigen. Es wäre jetzt so einfach …

Das was viele Menschen verunsichert hat, waren die vielen Kehrtwenden, insbesondere bei Astrazeneca …

Absolut! Das war nicht optimal. Einmal hieß es, der Impfstoff dürfe nur an über 60-Jährige verabreicht werden, dann nur mehr an unter 60-Jährige – und plötzlich war er wieder nur für die Älteren verfügbar. Diese fehlende Klarheit hat die Menschen verunsichert. Auf der anderen Seite haben wir jetzt die Situation, dass sich jeder den Impfstoff aussuchen kann. Man kann den Termin so wählen, dass man – unabhängig vom Alter – den Impfstoff bekommt, den man haben will. Derjenige, der bei der Erstdosis Astrazeneca hatte, kann laut Rundschreiben des Gesundheitsministeriums auch bei der Zweitdosis Astrazeneca nehmen, wenn er das für logischer erachtet. Er kann bei der zweiten Impfung aber auch auf einen anderen Impfstoff zurückgreifen. Selbst bei Astrazeneca – bei den anderen sowieso – ist das Risiko nachweislich verschwindend gering. Die Antibabypille sorgt viel häufiger für Thrombosen als die Corona-Impfung.

Apropos Impfskepsis: Hat Premier Mario Draghi mit seiner Aussage, dass Astrazeneca bei ihm nicht richtig gewirkt habe und er deshalb bei der Zweitdosis auf einen anderen Impfstoff ausweiche, der Sache nicht einen Bärendienst erwiesen?

Im Prinzip kann jede Botschaft auch so interpretiert werden, dass sie einem in den Kram passt. Klar ist, dass wir bei diesen Fragen vor allem den Wissenschaftlern und Experten das Wort überlassen muss. Und zwar nicht irgendeinem einzelnen Experten, der irgendwann einen Zwischenruf aus der Wüste macht, sondern der breiten Meinung der Wissenschaftler und der großen Organisationen, die unabhängig voneinander vertreten wird. So funktioniert der menschliche Fortschritt. Studien belegen, dass es kein Problem darstellt, wenn ich zwischen zwei Impfstoffen wechsle. Ein Wechsel ist aber nicht zwingend notwendig. Ich bin keiner, der hier eine persönliche Meinung abgibt. Das ist nicht meine Aufgabe.

Großbritannien hat sehr früh mit den Impfungen begonnen. Die Durchimpfungsrate ist relativ hoch. Dennoch steigen die Neuinfektionen aufgrund der Delta-Variante rasant an. Was müssen wir machen, damit Südtirol von so einem Schicksal verschont bleibt?

Ich habe am Montagvormittag mit EU-Kommissar Johannes Hahn, der mir berichtet hat, dass der EU-Gipfel in Lissabon um zwei Tage verschoben werden musste. Wegen der Delta-Variante wurde für die Stadt Lissabon wieder ein Lockdown verhängt. Scheinbar hatten zuvor viele Briten in Lissabon Urlaub gemacht bzw. dort ein Sportevent mitverfolgt. Auch wenn nur 30 Prozent der Menschen nichtgeimpft sind – in Südtirol sind es über 50 Prozent –, habe ich bei einer hochansteckenden Variante sehr schnell hohe Infektionszahlen. Umso wichtiger ist es, dass sich jetzt so viele Menschen wie möglich impfen lassen, damit sie Zahl der Ungeimpften immer kleiner wird. Fakt ist nun mal, dass am Ende die Nichtgeimpften im Krankenhaus landen. Das ist kein Märchen, sondern die Wahrheit.

Kann die Landesregierung hier sanften Druck ausüben?

Druck ist kontraproduktiv. Es geht nicht um Zwang, sondern darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Der Corona-Pass ist ein Anreiz, um die Impfbereitschaft zu steigern. Wenn morgen die Diskotheken wieder aufgehen, ist es sicherer und gerechter, wenn sich dort nur Geimpfte, Genesene und Getestete aufhalten. Die Impfung ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen man egoistisch sein kann und zeitgleich auch die Gesundheit der anderen Menschen schützt.

Im letzten Herbst haben Ministerpräsident Giuseppe Conte und Sie einen erneuten Lockdown weitestgehend ausgeschlossen. Sie haben erklärt, alles zu unternehmen, damit es dazu nicht noch einmal komme. Würden Sie sich heute, nach den Erfahrungen der vergangenen zwölf Monate, noch einmal zu so einem Statement hinreißen lassen?

Touché, Sie haben mich getroffen (lacht)! Meine Aussage war damals ehrlich gemeint in der Hoffnung, dass wir das nicht noch einmal tun müssen. Einen Lockdown zu verhängen ist für einen Politiker absolut grenzwertig, weil man weiß, wie viel Schaden – sei es wirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Natur – man damit verursacht. Der Lockdown ist die Ultima Ratio. Ich habe damals erklärt, dass es keinen Lockdown mehr geben dürfe und gehofft, dass es nicht noch einmal dazu kommen muss – aber leider war die Geschichte danach eine völlig andere. Auf der Erfahrung hin bin ich jetzt vorsichtiger. Heute sage ich: Es wäre noch ärgerlicher, wenn es noch einmal zu einem Lockdown kommt, weil wir – anders als vor einem Jahr – das Gegenmittel haben. Wenn wir uns als Gesellschaft aber so verhalten, dass wir im Herbst den nächsten Lockdown um die Ohren bekommen, dann müssen wir uns wirklich fragen, ob uns noch zu helfen ist.

Südtirol hat in vielen Bereichen, etwa bei den Testungen, einen eigenen Weg eingeschlagen. Gibt es rückblickend Entscheidungen, die Sie nicht noch einmal treffen würden?

Natürlich werden wir rückblickend bewerten, welche Entscheidungen besser und welche schlechter funktioniert haben. Es gibt bei vielen Themen kleine Punkte, die man besser machen kann, etwa in der Kommunikation oder im Timing. Der Widerstand gegen die Nasenflügeltests an den Schulen lag zum Teil daran, dass wir in den italienischen Schulen anders vorgegangen sind als in den deutschen. Es wäre vermessen zu sagen, wir hätten nichts besser machen können. Man lernt aus den Erfahrungen. Im Großen und Ganzen kann man aber sagen, dass die Maßnahmen, die wir getroffen haben, gerechtfertigt und wirksam waren. Manches hätten wir eine Woche früher, anderes eine Woche später machen können. So geht es aber auch den anderen. In der Regionenkonferenz gibt es keinen, der sagt, bei ihm sei alles zu hundertprozentig richtig gelaufen. Wir kochen alle nur mit Wasser. Südtirol hat sich nie vom europäischen Standard entfernt: Überall wurden Veranstaltungen untersagt, überall mussten Masken getragen werden.

Ein Phänomen der Corona-Pandemie ist der Frust, der sich in den sozialen Netzwerken löst. Sogar jetzt, wo wir weiße Zone sind, werden Verantwortungsträger unter der Gürtellinie angegriffen. Wie erklären Sie sich das?

Eine solche Krise verursacht und verstärkt Ängste, Sorgen, Frust und Leid. Albert Camus hat das sehr gut in seinem Buch „Die Pest“ beschrieben. Die schlechten Dinge sind immer eine Meldung wert. Es gab in dieser Krise aber auch sehr viel Positives, Nachbarschaftshilfe, Ehrenamt, Flexibilität in der Arbeitswelt. Das war aber alles keine Meldung. Wir müssen schauen, auch die guten Sachen mitzunehmen. Wir haben eine gespaltene Gesellschaft. In Familien wird über das Impfen und die Maskenpflicht gestritten. Autoritäten werden in Frage gestellt, niemandem wird mehr geglaubt, es gibt die wildesten Verschwörungstheorien. Das alles zu überwinden, wird eine große Herausforderung für uns als Gesamtgesellschaft. Denn wenn alles in Frage gestellt wird, alle Werte beliebig sind und jede Behauptung, egal ob wissenschaftlich bewiesen oder nicht, auf dieselbe Ebene gestellt wird, dann tun wir uns auch nach der Pandemie schwer. Es gibt sehr viele Gräben zu überwinden und Vertrauen aufzubauen, nicht nur in der Politik.

Letzte Frage: Wann ziehen Sie in Ihre Villa nach Davos?

(lacht) Ich habe von mehreren gehört, dass dieses Gerücht zirkuliert. Nicht einmal die Wohnung, in der ich mit meiner Familie lebe, gehört meiner Frau und mir, sondern – so wie vielen anderen Familien in Südtirol – größtenteils noch der Bank. Dieses Argument fruchtet aber bei denjenigen nicht, die an dieses Gerücht glauben, denn sie sind der Auffassung, dass die Pharmakonzerne mir eine Villa in Davos geschenkt hätten. Meine Frau hat darauf augenzwinkernd geantwortet, dass sie sich dann lieber ein Haus am Meer gewünscht hätte. Aber keine Sorge: Ich bin durch diese Pandemie nicht reicht geworden und habe an der Pandemie – so wie die meisten anderen Menschen auch – nichts verdient. Ich bin glücklich, dass wir ein schönes Eigenheim haben, das aber noch zur Hälfte der Bank gehört. Außerdem veröffentliche ich jedes Jahr meinen Vermögensstand, aus dem unter anderem hervorgeht, welchen PKW meine Familie fährt.

Interview: Matthias Kofler

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