„Holz und Haut“
Sepp Malls Gedichtband „Holz und Haut“ kreist um Vergessen und Erinnern. Mit unüberhörbaren Referenzen an Paul Celan.
Von Christine Vescoli
„Ruckedigu“, ruft es aus dem ersten Gedicht des neuen Bandes von Sepp Mall, mit dem sich der Dichter zu seinem 65. Geburtstag im vergangenen Dezember selbst beschenkt hat. Wie ein Menetekel hört sich das Gurren aus dem Grimm Märchen an und wir ahnen: Auf den Gedichten liegt ein bedeutungsgesättigtes Gewicht. Ob es vielleicht auffliegen und wie die Tauben, Aschenputtels Seelen, die Leichtfüßigkeit bereithalten könnte, fragen wir uns. Immerhin gibt es die Verheißung des Märchens. Doch daraus wird vorerst nichts. „mit blutenden Schuhn“ endet das erste Gedicht zu den Holzfällern, deren Tun in den dunklen Wäldern Unheil suggeriert, wenn Behutsamkeit in Gewalt übergeht. Am Abend kehren die Männer müde zu ihren Frauen zurück. Ist denn vergessen, was eben noch geschah?
Sepp Malls Gedichtband „Holz und Haut“ (Haymon Verlag 2020) kreist um Vergessen und Erinnern, um die Frage, was war und immer noch ist und was es gewesen sein wird, wenn es vorbei ist. Letztlich um die Grundfrage, was bliebt und „wie das alles zu halten ist“, wie daraus also Sinn zu beziehen ist oder die Vergewisserung, „dass alles noch da ist :Und damit man selbst“.
„Erschrocken tappst du zurück / über die blank gewischten Jahre“, heißt eine Zeile. Sie könnte der Ausgangspunkt der poetischen Rückschau sein, die bei Sepp Mall nie allein privat ist, sondern ins Kollektiv zieht und dort Spuren der Vergangenheit aufwirft.
Was stimmt nicht, wenn die Geschichte, im Großen wie im Kleinen, im Privaten wie im Politischen, blank geputzt scheint? Die Beantwortung dieser Frage geht Sepp Mall in spürbarer Vorsicht an. Zwar kommen seine Zeilen aus einer verhaltenen Trauer und Schwermut, einem Geschichtspessimismus, in dem aus gutem Grund keine bessere Welt zu erwarten ist. Dennoch versuchen sie sich, misstrauisch genug, immer wieder an Zuversicht oder am Zauber und Mythos wie in einem Wagnis. Darin tasten sie sich vor, gehen wieder zurück, greifen erneut Bilder magischen Denkens auf und halten sich im Unentschiedenen letztlich fest an der Skepsis. „Man lernt doch / aus der Geschichte (nicht)/ Wie im Märchen“.
„Holz und Haut“ heißt der Titel des Gedichtbandes in der Gussform einer rhetorischen Figur. Man liest ihn wie „Kind und Kegel“, „Stock und Stein“ oder „bei Nacht und Nebel“. Auch „Hänsel und Gretel“ ist nicht weit, ein Ausdruck zwischen fester Form und Figuren aus dem Märchen. Tatsächlich ziehen sie wie fragmentarische Erinnerungsspuren durch den Gedichtband, manchmal in der Anrufung der Namen, manchmal durch ein Detail wie das Stäbchen oder Stöckchen zwischen den Gitterstäben. Mit sprachlichen und mythischen Formeln ruft Sepp Mall einen kollektiven Gedächtnisraum auf, in dem „Ruckedigu“ ebenso wie Redefiguren und Redewendungen als kulturelle Organisationsformen gespeichert lagern. Fast möchte man meinen, auch ein Titel wie „Holz und Haut“ suche den Weg, sich dort einzuschreiben.
Von Holz ist viel die Rede. Von Bäumen und Bäumchen, von Booten, von Brettern, von Wäldern, von Rinden und Harz, von Krüppelholz, Totholz, Stirnholz, Bauholz, von Spaltholz und Holzrauch. Holz in seiner Verwandlung von Asche bis Rauch, in seinen Formen von geschlagen bis gezimmert und geschnitzt. Evident, dass Holz hier zum Bild und Bildnis wird. Kaum eine Anschauung, die nicht symbolhaft deutet, kaum eine Wahrnehmung, die nicht geschichtsträchtig verknüpft. So wie jede Frage der Darstellung geht auch jede Narration in Metaphern und Metonymien auf, sodass Bilder hier die Aufgabe tragen, der beständigen Reflexion zu dienen.
Das trifft zunächst auf die persönliche Betrachtung zu, in der „dieses lebendige Holz / das deine Lebenszeit misst“, gezählt wird: die „Kirsche (mannshoch und jung)“ im Garten, der holle Holunderbusch „als Beschwörer des Glücks“, der Olivenbaum, ein Hagestolz, der launenhafte Flieder. Dann der Apfelbaum, die Birken und Fichten, die Erle, die Nuss, die heimische Föhre. Dann der Rauch der Heimat, der steigt und umschlägt in polnische Dörfer.
Und damit ist die große Geschichte eingeblendet, in die der Gedichtband auch führt, nämlich mit den polnischen Dörfern und den Baracken von Auschwitz in das düsterste Kapitel des 20. Jahrhunderts, das, geleitet von der Grunderfahrung des Holocaust, in der Literaturgeschichte das nahezu unlösbare Darstellungsproblem einer sprachlosen Erinnerung aufgeworfen hat. Paul Celan, Zeuge und Überlebender, hat dem fundamentalen Einbruch der Geschichte trotz aller Aporie die Sprache der Dichtung zu geben versucht. Das prominenteste Beispiel ist die „Todesfuge“, deren Popularität als „intellektueller Gassenhauer“, wie er meinte, dem Dichter selbst bald ungeheuerlich wurde. Sepp Malls Referenzen an Paul Celan sind unüberhörbar, die „Todesfuge“ wie aus dem Off: Die Gegenüberstellung der jüdischen Namen von Hannah und Ruth und der deutschen von Margarethe und Gretel vom Hänsel; „Dein aschenes Haar Sulamith“ bei Celan und „aschengrau, immernoch“ bei Mall, „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends/ wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts/ wir trinken und trinken“ (Celan); bei Mall: „Wir aßen zu Mittag/ aßen zu Abend/ Nichts als ein Hinhalten der Stunden“, die hermetische Verknüpfung von Nomen zu zeichenhaften Komposita, Signalwörter wie „Mohn“ oder „Herzkammer“ oder die suggestive Evokation eines Du oder Wir. In der ästhetischen Anlehnung an die Nachkriegsdichtung, die etwa auch Ingeborg Bachmann mit einbezieht, reißt Sepp Mall Echoräume voller Bezüge auf, die emphatisch Trauer bezeugen und sich melancholisch dem Eingedenken an ein Verlorenes und noch nicht Eingelöstes verpflichten. Sepp Mall teilt deren sinnbildhafte Poetik, die mitunter im Flüchtigen oder im atopischen Gedächtnisraum des Märchens die Schwerelosigkeit erprobt und sich darin der Entschlüsselung zu entziehen versucht. In der Aufladung von Ausdrücken wie „Sehnsuchtsblei“, „Dämmer des Zweifels“, „Dunkel der Dünen“ und „Vogelbeeren oder Blut“ kehrt sie wieder zu ihrem zentralem Schwerpunkt zurück.
Sepp Mall: Holz und Haut. Gedichte. 96 Seiten. Haymonverlag, 2020.
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