Ich mache mir große Sorgen um den Jazz
Tageszeitung: Herr D´Andrea, es sind besondere Zeiten. Welche Musik hören Sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen?
Franco D´Andrea: Ich bin ein Mensch, der immer versucht, etwas Positives aus jeder Situation zu ziehen. Covid-19 ist da, da gibt es nichts zu diskutieren, aber der Lockdown gibt mir die Möglichkeit, einige Dinge zu vertiefen, für die ich bislang keine Zeit hatte, weil ich mich wie ein Kreisel von einem Konzert zum anderen gedreht habe. Ich habe mich in dieser Zeit mit einem Musiker aus den 1960er Jahren auseinandergesetzt, der wirklich ausgefallene und besondere Dinge gemacht hat. Andrew Hill war Pianist und Komponist, ist aber nie wirklich bekannt geworden, auch weil er nicht die Unterstützung großer Plattenfirmen hatte. Ich kannte seine Musik, habe aber nie wirklich verstanden, was er macht. Alle fünf Jahre habe ich es von neuem versucht, vergeblich. Es gab immer einen Rest, der ein Geheimnis blieb. Eine andere für mich unbegreifliche Musik habe ich 1987 in Afrika kennengelernt…
In Kamerun
Ja, dort habe ich zwei Balafonisten (ein Balafon ist eine Art Xylophon, Anm. d. Red.) gehört, die mir unglaublich gefallen haben, nur leider habe ich nichts davon verstanden. Ich hab es wirklich versucht, aber das rhythmische Prinzip von diesen beiden ist mir ein lebenslanges Rätsel geblieben. Es ist Musik, die mich buchstäblich schachmatt gesetzt hat. Für einen Musiker ist das das Größte. Du kennst etwas, aber du verstehst nur zum Teil, was es ist. Das ist Musik, die sich mit den Jahren immer weiter entwickelt und nie stehenbleibt.
So wie Thelonius Monk. Der ist Ihre wichtigste Bezugsgröße.
Monk ist für mich wie ein Wohnungsnachbar. Als Persönlichkeit scheint er naiv zu sein, sein Spiel scheint ohne jede Virtuosität zu sein, aber seine Musik hat Substanz. Steve Lacy hat einmal über ihn gesagt, dass er unerschöpflich sei. Das stimmt hundertprozentig. Wenn man mich fragt, welches Komposition ich von ihm am liebsten höre, lautet meine Antwort: Ich höre den ganzen Monk.
Den Jazz entdeckt haben Sie mit Louis Armstrong.
Stimmt, damals war ich 13. Louis Armstrong spielte Basin Street Blues mit den All Stars. Ich war so fasziniert, dass ich sofort eine Trompete kaufen wollte. Zum Musiker geworden bin ich einzig und allein durch den Jazz.
Mit der Band von Konrad Plaickner sind Sie zum ersten Mal aufgetreten.
Ja, damals habe ich eine ganze Menge Instrumente gespielt, die ich mir alle als Autodidakt beigebracht hatte. Klarinette, Trompete, Saxophon, Kontrabass, das Klavier kam erst später. Ich erinnere mich mit großem Vergnügen an diese Zeit. Wir waren wirkliche Freunde.
Die Band bestand ausschließlich aus deutschsprachigen Musikern.
Ja, und das hatte einen Grund. Ich war italienischer Muttersprache, aber ich hatte irgendwie Schwierigkeiten mit meiner Sprachgruppe. Vielleicht war es ganz einfach ein pubertäres Problem, ich weiß es nicht, aber jedenfalls hat mir ein Doktor damals geraten, mir ein anderes Ambiente zu suchen. Er sagte, ich solle versuchen, mich mehr mit deutschsprachigen Meranern zu treffen. Das habe ich gemacht und so habe ich Konrad Plaickner kennengelernt. Die Mitglieder der Band waren sehr höflich und unterhielten sich auf Italienisch mit mir. Diese Kontakte und das deutschsprachige Ambiente haben mich auf wundersame Weise ruhiger und gelassener gemacht. Bei den Deutschen bedeutete wie in meiner Familie Ja Ja und Nein bedeutete Nein und ein vereinbarter Zeitpunkt war eine Vereinbarung, die einzuhalten war. In der italienischen Sprachgruppe hingegen war das nicht selbstverständlich. Möglicherweise kommt diese Haltung von meiner Familie her, die aus dem Trentino kommt und noch von der habsburgischen Monarchie geprägt war.
Haben Sie Deutsch gelernt?
Meine Eltern konnten sich korrekt in Deutsch ausdrücken, ich selber habe es leider nie wirklich gelernt. Meine Lehrer hatten den guten Willen, aber es gab zu wenig Möglichkeiten für Konversation. Ich kann mich an eine Tournee mit Enrico Rava in den 1980er Jahren erinnern, die uns durch ganz Deutschland führte. Ich war der einzige in der Band, der ein bisschen Deutsch verstand und reden konnte, aber in München habe ich kaum ein Wort verstanden. Je weiter wir nach Norden reisten, umso mehr habe ich verstanden. In Bremen hatte ich überhaupt keine Verständnisprobleme mehr.
Ihre Mutter spielte klassisches Klavier.
Sie hat acht Jahre Klavier am Konservatorium studiert, aber danach nicht mehr weitergemacht. Manchmal spielte sie Ziehharmonika, aber ich habe das nicht ausgehalten und bin jedes Mal in Tränen ausgebrochen. Sie musste aufhören, damit ich mich wieder beruhigte.
Eigentlich wäre eine klassische Laufbahn am Klavier vorgezeichnet gewesen.
Klassische Musik hat mich überhaupt nicht interessiert. Nie. Ich wollte das nicht hören. Schon als Kind nicht. Als Bub hat mich Sport sehr interessiert, vor allem Leichtathletik und Fahrradfahren. In der Leichtathletik habe ich alles gemacht, außer Stabhochsprung. Mit den damaligen harten Stäben war das fast Selbstmord und man landete nicht auf einer weichen Matratze, sondern im Sand. Davon habe ich die Finger gelassen.
Wie geht es weiter mit dem Jazz? Muss man sich Sorgen um ihn machen?
Ich mache mir große Sorgen, denn der Jazz ist mein Leben, er ist das, was mich immer begleitet hat. Der Gedanke, dass er verschwinden könnte, weil sich die junge Generation nicht mehr dafür interessiert, ist für mich schmerzhaft und unerträglich. Die Realität ist aber leider so, dass das Publikum allmählich verschwindet. Es wird immer älter, man sieht auf den Konzerten kaum noch Leute unter 50 Jahren. Das ist nicht nur in Italien so, auch in Amerika ist es keineswegs besser. Ein Bekannter von mir war jüngst auf dem berühmten Festival von Monterey in Kalifornien und hat dort mehr oder weniger nur Besucher seines Alters gesehen, also Leute, die um die 80 sind. Junge Menschen, als bis 40jährige, sieht man kaum noch.
Gleichzeitig gibt es sehr viele junge Menschen, die Jazz studieren und spielen.
Ja, es gibt sehr viele und sie spielen hervorragend. Ich frage mich: Haben die keine Verwandte, Freunde oder Bekannte, die zu ihren Konzerten kommen? Normalerweise ist es doch so, dass jeder Musiker mindestens fünf Besucher aus seinem Bekanntenkreis mitbringt. Bei fünf Musikern sind das 25 Leute. Aber dem ist leider nicht so. Sie spielen hervorragend, aber ihre Gleichaltrigen scheinen sich nicht dafür zu interessieren, sie sind isoliert in ihrer Gruppe. Es gibt keinen Generationswechsel bei den Jazzfans. Das macht einen wie mich unendlich traurig.
Was kann man dagegen tun?
Ich habe unter Kollegen den Vorschlag gemacht, dass jeder von uns täglich eine gewisse Zeit dafür hernimmt, etwas für die Verbreitung des Jazz zu tun.
Wie Sie es mit der Meraner Jazz Academy tun.
Ja, dort arbeite ich mit Studenten, mit Musikern. Es kommt aber darauf ein neues Publikum heranzuziehen, gewöhnliche Leute, die keine Fachleute sind. Wir müssen den Menschen vermitteln, dass Jazz nicht in einem Elfenbeinturm stattfindet, sondern von seinen Wurzeln her eine volkstümliche Musik ist, zu der die Menschen einst getanzt haben.
Der Eindruck ist, dass Jazz Musik für eine intellektuelle Elite ist.
Ja leider und man muss zugeben, dass es zum Teil auch so ist, aber eben nicht nur. Der Jazz ist ungeheuer reich an Ausdrucksweisen. Es gibt sehr Raffiniertes, aber auch sehr Einfaches, das jeder verstehen kann, ohne ein Experte zu sein. Vor dem Jazz muss niemand Angst haben.
Ich persönlich hatte eine Phase, in der ich Free Jazz geliebt habe. Was hat er für Sie bedeutet?
Sehr viel. Als ich das erste Mal Ornette Coleman gehört habe, war ich begeistert, aber ich habe damals nicht wirklich verstanden, was diese Musiker machten. Bei ihm und bei Archie Sheep hörte man einen revolutionären Impetus heraus, aber zugleich auch eine bestimme „dolcezza“. Cecil Taylor hingegen war mir zu aggressiv, das entspricht nicht meinem Charakter. Ich glaube, seine Musik ist zu sehr auf ihn selbst konzentriert. Er war ein großer Musiker, keine Frage, aber ich mag es lieber demokratischer. Für mich hatte der Free Jazz viel mit den Theorien der Wiener Schule von Schönberg und Anton Webern zu tun. Letzterer hat mich sehr beeinflusst mit seinem Gebrauch kurzer melodischer Zellen, den Intervallen und vielen Zwischenräumen. John Coltrane hat auf seiner legendären Platte „A Love supreme“ im Grunde das Gleiche auf einer pentatonischen Skala gemacht. Ich habe mir diese Strukturen so allmählich erarbeitet und in meiner Musik angewandt, allerdings ohne den revolutionären Hintergrund der 1960er Jahre.
Letzte Frage. Louis Armstrong hat Sie zum Jazz gebracht. Können Sie seinen unsterblichen Song „It´s a wonderful world“ singen?
Armstrong habe ich geliebt, aber mehr seine Trompete als seine Stimme.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Der gebürtige Meraner Franco D’Andrea ist am 8. März 80 Jahre alt geworden. D’Andrea hat in Meran mit Jugendfreunden beider Sprachgruppen erste Schritte im Jazz gemacht. 1960, nur wenige Jahre später, machte der blutjunge Pianist und Autodidakt bereits monatelange professionelle Erfahrung an der Seite des berühmten Saxofonisten Gato Barbieris, dann mit der weltweit erfolgreichen Jazzrock-Formation Perigeo. Es folgten avantgardistische Ausflüge mit dem Modern Art Trio, schließlich Soloprojekte, mit denen er zur Reife fand. Seitdem spielt er vorwiegend mit eigenen Formationen, aktuell v.a. im Trio oder Quartett. D’Andrea hat mit vielen der ganz großen Jazzmusiker zusammengespielt, so mit Johnny Griffin, Lee Konitz, Steve Lacy, Max Roach oder Dave Liebman.
D’Andrea hat weit über 200 Plattenprojekte aufgenommen. Musikalisch gehört er zum Typus des komponierenden Improvisators. Man darf ihn zu einem der Mitbegründer eines eigenen europäischen Jazz-Idioms zählen. Im letzten Jahrzehnt erfuhren seine Musik und seine Konzerte große Wertschätzung auf wichtigen Bühnen in Italien, aber ebenso international. Seit 1980 geht D’Andrea konsequent einen originellen, eigenständigen Weg, abseits von US-Modellen. Von der Pariser Jazzakademie wurde er 2010 für sein Lebenswerk als „Europäischer Musiker des Jahres“ geehrt, folgte vor kurzem dieselbe Auszeichnung von „Musica Jazz“, dem renommierten italienischen Fachmagazin. Passend zum runden Geburtstag erscheint eine neue Biografie zu D’Andrea. Er lebt in Mailand.
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