Hure oder Heilige?
Glaubt man der Reporterin Barbara Bachmann und der Fotografin Franziska Gilli steckt das Frauenbild in Italien trotz einer lautstarken feministischen Bewegung immer noch in den Stereotypen von Heiliger oder Hure fest. Stimmt das und wie gehen die Frauen damit um? Ein Gespräch.
Tageszeitung: Hure oder Heilige – der Titel Ihres Buches klingt nach einer uralten Männerphantasie. Entspricht dieses Frauenbild noch der Wirklichkeit oder ist es eine griffige publizistische Zuspitzung?
Franziska Gilli: Den Buchtitel haben wir bewusst provokativ gewählt. Er bezieht sich auf zwei rein weibliche Stereotype, die das Denken, Handeln und den Blick auf Frauen in Italien mehr prägten als jedes andere Klischee. So deutlich wie auf unserem Buchcover treten sie im Alltag aber längst nicht zutage. Sie steuern Vorurteile gegenüber Frauen viel subtiler, oft unbewusst. Auch heute noch, und zwar stärker, als wir zu Beginn der Recherche angenommen hatten.
Barbara Bachmann: Die Hure und die Heilige sind die zwei zentralen Frauenrollen im katholischen Glauben: Maria Magdalena und die Jungfrau Maria. Die beiden Stereotype, die sie verkörpern, sind einerseits widersprüchlich und bedingen sich andererseits. Dass Sie diese als “Männerphantasie” bezeichnen, zeigt, wie tief sie in unserer Gesellschaft verankert sind.
Der Männertraum von der idealen Frau lautet doch eher Heilige und Hure: in Gesellschaft eine Dame, in der Familie ein Engel und im Bett eine Hure.
Franziska Gilli: Tatsächlich werden solche “Ideale” oft vermischt, etwa in der Werbung. Dieser Branche widmen wir im Buch auch ein Kapitel. Wir haben uns gefragt, woher kommen diese Anforderungen an Frauen, die letztendlich ein gesellschaftliches Konstrukt sind, und was hält sie heute noch lebendig?
Barbara Bachmann: Unabhängig davon sagt ein Satz oft mehr aus über den, der ihn sagt, als über die Person, über die gesprochen wird. Mit anderen Worten: Was Männer über Frauen denken, gibt oft mehr über sie selbst preis, als über die Frauen.
Die Hure Maria Magdalena und die Heilige Jungfrau Maria mögen religiös tief verankerte Rollenmodelle sein, aber kann man ernsthaft behaupteten, dass sich das Frauenbild in Italien nicht wirklich verändert hat. Es gibt ja auch eine emanzipatorische Geschichte und die Kirche hat ihre Macht weitgehend verloren.
Franziska Gilli: Natürlich hat sich das Frauenbild verändert, gerade in Italien haben Feministinnen in den 70er-Jahren sehr viel erreicht. Das Recht auf Scheidung oder Abtreibung ist nicht naturgegeben, sondern wurde hart erkämpft. Aber was sind 50 Jahre gegen zwei Jahrtausende? Wir haben noch lange keine Gleichstellung zwischen den Geschlechtern erreicht und wir bewegen uns in dieser Hinsicht viel langsamer als andere europäische Länder.
Barbara Bachmann: Die katholische Kirche hat in den letzten Jahrzehnten mit Sicherheit viel Macht verloren, aber ihre Vorstellung von Weiblichkeit wird noch lange in der Gesellschaft nachwirken. Solche Prägungen werden über Generationen weitergegeben und bestehen auch dann weiter, wenn wir beispielsweise Sonntags nicht mehr den Gottesdienst besuchen. Wollen wir ernsthaft behaupten, Kritik sei unangebracht, während unsere Provinz noch nie eine Landeshauptfrau und unser Staat noch nie eine Ministerpräsidentin an der Spitze gesehen hat?
Ganz direkt gefragt: Sind die Männer daran schuld, dass solche Stereotypen scheinbar unzerstörbar fortbestehen?
Franziska Gilli: Nicht eine Schuldzuweisung sollte im Zentrum unserer Debatte stehen, sondern die Frage, ob wir am Status Quo etwas verändern wollen. Und Veränderung beginnt mit dem Bewusstsein, dem Sich-Bewusst-Werden über eine Situation, die als normal empfunden wird, aber gleichzeitig konsequent die Hälfte der Bevölkerung benachteiligt und diskriminiert.
Barbara Bachmann: Letztendlich kann eine Veränderung nur stattfinden, wenn Männer und Frauen hier am gleichen Strang ziehen. Wir alle sind in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen und sitzen daher im selben Boot. Wo es eine bestimmte Vorstellung von Weiblichkeit gibt, die immer auch mit gewissen Erwartungen verbunden ist, gibt es auch ein gewisses Männlichkeitsmodell.
Italienische Frauen wollen gefallen, lassen sich die Lippen mit Botox wie Schlauchboote aufspritzen, Fettabsaugungen und Brustvergrößerungen sind Routine, die spärlich bekleideten Veline im Berlusconi-Fernsehen sind so etwas wie Role Models für viele jungen Italienerinnen. Welchen Anteil haben die Frauen selbst an diesem stereotypen Frauenbild?
Franziska Gilli: Ihre Frage lässt eine leichte Abschätzigkeit gegenüber diesen Frauen durchklingen. Keine von ihnen kam von selbst auf die Idee, aufgespritzte Lippen seien erstrebenswert. Das neue Botox ist übrigens Hyaluronsäure, die sich nach wenigen Monaten wieder abbaut und regelmäßig erneuert werden muss. Ein wirtschaftlicher Coup mit Suchtfaktor.
Barbara Bachmann: Hätten Frauen das patriarchale System nicht genauso verinnerlicht wie Männer, wäre es schon in sich zusammengebrochen. Sie tragen eine Mitverantwortung, wenn sie beispielsweise frauenfeindliche Argumente entschuldigen oder befürworten und an ihre Kinder, Söhne wie Töchter, weitergeben. Aber sie tragen nicht mehr Verantwortung, als das die Männer tun.
Der Filmemacher Gustav Hofer sagt, italienische Frauen sehen und bewerten sich häufig mit einem männlichen Blick. Stimmt das und warum fügen sie sich dem Druck, immer sexy zu sein müssen?
Barbara Bachmann: Viele Filme, TV-Sendungen, Fotografien etc. wurden lange Zeit von und für Männer gemacht. Dadurch war und ist auch der Blick auf Frauen ein männlicher. Frauen, die mit diesem Modell aufwachsen und keine Alternativen kennen, betrachten das unter Umständen als eine erstrebenswerte Normalität. Nehmen wir das italienische Unterhaltungsfernsehen: Das Frauenbild der meist stummen Schönen scheint das einzig erfolgreiche zu sein. Dem entsprechen zu wollen hat mit dem Wunsch nach Anerkennung zu tun, den alle Menschen in sich tragen.
Für Ihre Recherchen haben Sie mit zahlreichen Frauen aus allen Schichten gesprochen. Leiden die Frauen unter diesen festgefahrenen Stereotypen oder empfinden sie es als gar nicht so schlimm?
Franziska Gilli: Es kommt darauf an, wie sehr sie die gängigen Rollen und Stereotype in Frage stellen. Ob und inwiefern sie darüber reflektieren.
Den Amateuerpornodarsteller, der findet, das Frauen wie Pferde geritten gehören, muss man nicht weiter ernstnehmen, wie repräsentativ ist aber die konservative Aktivistin beim Popolo della famiglia, die in Feministinnen nur betrogene und enttäuschte Frauen sieht?
Barbara Bachmann: Uns war es wichtig, verschiedene Menschen und Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Es gibt in Italien sehr konservative Bewegungen wie die Partei „Popolo della famiglia”, die überzeugt sind, dass ein Krieg gegen die klassische Familie bestehend aus Mann, Frau und Kind im Gange ist. Diese Einstellungen werden aber nicht von der Mehrheit der Bevölkerung vertreten. Sie sind ein Extrem, von dem es in Italien auch gegenteilige Beispiele gibt.
Italienische Männer gelten traditionell als galante Womanizer. In Ihrem Buch scheinen sie Feministinnen generell für Männerhasser zu halten.
Barbara Bachmann: Es werden im Buch auch durchaus andere Ansichten vertreten. Etwa vom 18 Jahre alten Gabriele Francesconi aus Rom, der sagt: “Ich bin Feminist. Es geht für mich darum, den Menschen zu sehen, nicht das Geschlecht. Oder dem Familienvater Simone A., der betont: “Für mich bedeutet Gleichstellung gleiche Rechte, gleiche Pflichten – zu Hause, bei der Arbeit, in allem.« Ganz allgemein hatten wir nach den Gesprächen mit den Männern den Eindruck, dass sich ihr Frauenbild oft zwischen Verehrung und Verwunderung bewegt.
Frauenmorde sind ein riesiges Problem in Italien. Im Durchschnitt wird im Land der Charmeure alle drei Tage eine Frau, meist von ihrem Partner, ermordet. Stecken die tiefen Gründe dieser realen Gewalt auch in der Misogynie des traditionellen Frauenbildes?
Barbara Bachmann: Frauenmorde, und überhaupt Gewalt an Frauen, sind nicht nur in Italien ein Problem, sondern weltweit. Die Ursachen dafür sind nicht so einfach festzumachen, aber sie haben mit Sicherheit auch mit dem Frauenbild zu tun und mit dem Stellenwert der Frau in unserer Gesellschaft. Wenn eine Frau als Objekt gesehen wird und nicht völlig gleichgestellt ist, ist es naheliegender, dass jemand den Reflex entwickelt, sie besitzen und unterdrücken zu wollen. Gewalt hat auch mit Macht, Besitzansprüchen, Hierarchiedenken zu tun.
Es gibt eine lautstarke feministische Bewegung in Italien, aber politisch scheint das Thema kaum von Interesse zu sein. Hängt das auch mit diesem soziokulturellen Einstellungsmuster zusammen?
Franziska Gilli: Die fehlende Repräsentanz von Frauen in Machtpositionen ist nicht zuletzt dann ein Problem, wenn Männer an der Spitze ihr Privileg nicht dazu nutzen, selbst ein Bewusstsein über Benachteiligungen auf gesellschaftlicher Ebene zu entwickeln. Eine 50%-ige Frauenquote gibt es nicht, dabei müsste sie vorübergehend peu à peu zum Ziel werden, um unsere Gesellschaft an Gleichstellung zu gewöhnen.
Barbara Bachmann: Es ist eine Tatsache, dass Frauen in Italien überdurchschnittlich gut ausgebildet, aber unterdurchschnittlich beschäftigt sind. Das Ideal der sich kümmernden Mutter aus dem Faschismus wirkt in den fehlenden Kita-Plätzen für Kinder bis heute nach. Nur für 7% aller Kinder im Kita-fähigen Alter gibt es einen Platz. Und noch immer fehlen die Frauen in vielen, wichtigen Entscheidungspositionen. Das gilt auch für die Politik, von der Gemeindeebene bis hin zu Spitzenämtern. Da liegt noch ein langer Weg vor uns.
Die #metoo-Debatte, schreiben Sie, habe patriarchale Strukturen nicht beseitigt, sondern noch weiter verhärtet. Können Sie das belegen?
Franziska Gilli: Die Schauspielerin Asia Argento, die in den USA maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die #meetoo-Debatte ins Rollen kam, wurde in ihrer Heimat Italien dafür belächelt und mit verbaler Gewalt angegriffen, nicht nur in Social Media Kanälen, sondern auch durch diverse Medien. Ähnliche Reaktionen haben auch andere Frauen erfahren, die offen über sexuelle Belästigung sprachen. Anders als in den USA oder Deutschland hat die Debatte in Italien aber kaum zu beruflichen Konsequenzen für die beschuldigten Männer geführt.
In einem ihrer Kapitel haben Sie Äußerungen über die italienische Frau im Laufe der letzten 100 Jahre gesammelt, von Benito Mussolini bis Matteo Salvini. Sind Rechtsparteien anfälliger für Frauenverachtung?
Barbara Bachmann: Sie vertreten zumindest offen konservativere Geschlechterrollen und nicht selten schüren sie einen Frauenhass. Gerade Matteo Salvini äußert auf seinen sozialen Kanälen immer wieder verbale Gewalt gegen Frauen und legitimiert sie dadurch. Was ihre eigenen Reihen betrifft, so sind die Rechtsparteien oft noch weiter als andere von einer Gleichstellung entfernt.
Sie haben mit einer 99jährigen Oma, mit Nonnen, Showgirls, feministischen Aktivistinnen, einer Analphabetin, Universitätsprofessorinnen und anderen geredet. Welche Geschichte hat Sie am meisten berührt?
Barbara Bachmann: Ich denke gerne an die Begegnung mit Elide Fanny Alberini zurück, die wir im Sommer 2019 durch Zufall im Laufe unserer Recherche in der Poebene kennen lernten. Mit ihren 99 Jahren konnte sie auf beinahe 100 Jahre Frausein in Italien zurückblicken. Die Klarheit und Ehrlichkeit, mit der sie von ihrem Leben und ihren Erfahrungen erzählte, hat mich sehr berührt.
Franziska Gilli: Beeindruckend war immer wieder, wie sehr die einzelnen Lebensgeschichten miteinander verwoben sind. Das war auch das Spannende an diesem Projekt. Im Grunde hätten wir mit allen Menschen in diesem Land sprechen können, jede und jeder hat seine Prägungen erfahren.
Der Bildteil ist sehr umfangreich und aussagekräftig aus dem Geist der Reportage gestaltet. Sind sie nach dem Sprichwort „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ vorgegangen?
Franziska Gilli: Bilder sind für mich als Fotografin meine Worte, es ist die Art, wie ich berichte. In meiner fotografischen Arbeit interessiere ich mich sehr für den Menschen als Teil und Repräsentant sozialer Systeme. Die Buchform ermöglicht es uns, verschiedene Lebenswelten in Bild und Text in einen übergeordneten Kontext zu stellen und Fragen aufzuwerfen.
Interview: Heinrich Schwazer
Das Buch
Das Rollenbild der Frau in Italien könnte nicht widersprüchlicher sein: Hure oder Heilige. Wie gehen Frauen damit um? Wie sollen Jugendliche sich hier einordnen? Regt sich Widerstand? Solche Fragen motivierten die Reporterin Barbara Bachmann und die Fotografin Franziska Gillidazu, sich für ihr bei Edition Raetia erschienenes Buch „Hure oder Heilige“ auf Spurensuche zu begeben.
Barbara Bachmann, Franziska Gilli: Hure oder Heilige. Frau sein in Italien. Edition Raetia, 24,90 Euro.
Zur Person
Barbara Bachmann, geboren 1985, ist freie Reporterin und arbeitet für deutschsprachige Magazine und Wochenzeitungen, darunter „Reportagen“, „mare“, das „Süddeutsche Magazin“ und „Die Zeit“. Für ihre Arbeit wurde sie mit diversen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Axel-Springer-Preis.
Franziska Gilli, geboren 1987, lebt als freie Fotografin in Hannover. Sie studierte Kulturmanagement sowie Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Ihre Arbeiten wurden u.a. in der „Neuen Zürcher Zeitung“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht. Sie ist Mitglied in der Agentur laif.
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