„Die Dinosaurier des Theaters“
Ist die Angst, dass digitale Angebote das herkömmliche Theater ablösen, begründet oder völlig unbegründet? Die Schauspielerin Patrizia Pfeifer plädiert dafür, weniger zu jammern und entschlossen auf die digitalen Medien zuzugehen.
Tageszeitung: Frau Pfeifer, gestreamtes Theater ist nicht jedermanns Sache. Wie geht es Ihnen vor dem Bildschirm, der eine Bühne sein möchte?
Patrizia Pfeifer: Der Bildschirm erhebt gar nicht den Anspruch, Bühne zu sein. Das würde auch nicht funktionieren. Ich konsumiere zur Zeit digitales Theater, das mit einer neuen Form und einer neuen Ästhetik arbeitet. Das ist spannend und bereichernd. Es geht mir also sehr gut im virtuellen Raum.
Von welchen Aufführungen sprechen Sie und was ist neu an dieser neuen Form und Ästhetik, außer, dass sie im virtuellen Raum stattfindet?
Ich spreche hier natürlich nicht von aufgezeichneten Archivaufnahmen, die ins Netz gestellt werden. Vor einem Jahr, als von einem Tag auf den anderen der gesamte Theaterbetrieb lahm gelegt wurde, war das fürs erste eine gute Notlösung. Aber es ist Theatererlebnis zu 20 % und nicht die richtige Antwort. Ich spreche von dem „Evolutionslevel“, auf dem sich Theater derzeit befindet (oder befinden könnte). Es gibt Theater, die reagiert haben und innerhalb eines Jahres Produktionen im digitalen Format herausgebracht haben, welche dem analogen Theater gegenüber nicht defizitär sind. Sie arbeiten mit dem Split-Screen-Verfahren: ein Bildschirm der sich teilt, der mir eine vielfache Perspektive auf die Akteur*innen gewährt, auf Details zoomt. Oder mit Schauspieler*innen, die sich selbst mit der Handkamera filmen, die an das Zoom-Programm angeschlossen ist. Es gibt interaktive Game-Formate. Um nur drei Beispiele zu nennen. Zur Zeit verfolge ich eine Produktion, die wie eine Serie konzipiert ist. Ein bisschen wie Netflix und doch ist es NICHT Film. All diese Produktionen versuchen, sich den Möglichkeitsraum der digitalen Medien zu erschliessen.
Haben Sie als Schauspielerin schon Erfahrungen mit digitalen Theaterformaten? Sind sie ein neuer Spielort, eine Erweiterung des Bühnenraumes in hybride Formate?
Ich spiele „Europas längster Sommer“ (VBB) einen Monolog nach dem Roman von Maxi Obexer, der als Klassenzimmerstück konzipiert worden ist und mit dem ich vor Corona-Zeiten an Schulen aufgetreten bin. Als dies nicht mehr ging, waren die Möglichkeiten zwei. Entweder aussetzten oder umdenken. Also haben der Regisseur Joachim Gottfried Goller und ich eine digitale Performance des Monologes erarbeitet, mit welcher ich mich nun von meinem Wohnzimmer aus live mit den Schüler*innen in ihren Wohnzimmern verbinde. Und es funktioniert, wenn ich nach dem Feedback der Schüler*innen urteilen darf. Der virtuelle Raum braucht die Bühne im traditionellen Sinne nicht mehr, man ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden. In meinem speziellen Fall ist der Ort meine private und intimste Umgebung. Und die Erfahrung, dass sich hier Persönliches und Berufliches vermischt, ist für mich eine besondere und interessante.
Theater ist mehr als eine Bühne. Es ist auch die Sitznachbarin, die ein neues Kleid ausführt und es ist der Herr in der Reihe davor, der immer nach zwei Minuten einschläft. Wie kann man die Theater-Magie eines gemeinsamen Erlebnisraumes ins Digitale übersetzen?
Natürlich kann nichts das physische Näheerlebnis im Theater ersetzen. Aber auch im Netz muss mir der gemeinsame Erlebnisraum nicht verloren gehen. Der Live-Faktor, die Zeitbegrenzung, die Co-Präsenz von Schauspieler*innen und Publikum, dem haftet die Magie des Theaters allemal an. Und – es kann jederzeit was schiefgehen, also wie im „richtigen“ Theater. Vielleicht verändert sich das Machtverhältnis. Die Hemmschwelle, während einer Vorstellung zu gehen, wenn es einem nicht gefällt, wird nur sehr selten überschritten, zu Hause klappe ich einfach den Laptop zu.
Das Problem am Bildschirm ist, dass er eine Vereinzelungsmaschine ist. Sollten wir uns wirklich daran gewöhnen?
Wir sind bereits mit dieser digitalen Welt verwoben. Wie in allen Dingen ist es das Maß, also wie wir damit umgehen. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen physische soziale Kontakte nur sehr beschränkt stattfinden können, empfinde ich es als Segen, mich im Netz mit Menschen zu verbinden. Und um mich auf meine Arbeit zu beziehen, die Proben zur digitalen Version von „Europas längster Sommer“ fanden vor dem Bildschirm statt. Der Regisseur saß in Salzburg, ich hier in Bozen. Dass es diese Möglichkeit gibt, finde ich großartig. Und safe!
Ein Blick voraus in die Post-Corona-Zeit. Hat das Theater nur mehr die Alternative, sich das Digitale einzuverleiben oder selbst einverleibt zu werden?
Wir dürfen diese Chance jetzt nicht verpassen. Es wäre ein Fehler, analog und digital gegeneinander auszuspielen. Die Angst, dass digitale Angebote das herkömmliche Theater ablösen, ist völlig unbegründet. An großen Theaterhäusern werden parallele Spielpläne gedacht. Wir haben jetzt auch nicht das Rad erfunden, bereits in den Neunzigerjahren gab es Gruppen, die versucht haben, übers Netz Publikum zu einem Live-Theatererlebnis zusammenzuführen, und dennoch lebt das analoge Theater bis heute. Aber wir müssen uns bitte auch eingestehen, dass sich das Theater seit langem in einer Krise befindet, jedes Haus kämpft um Zuschauerzahlen und die Aufgabe, ein neues und auch junges Publikum zu erreichen, ist eine sehr schwierige. Hier können wir ansetzen, diese Notlage als große Chance sehen, unseren Wirkungsraum erweitern. Ich bin mir sicher, dass wir durch ein erweitertes Angebot ein größeres Spektrum an Zuschauer*innen gewinnen können. Ich verbinde mit dem digitalen Format auch den Gedanken, dass das Theatererlebnis auch Menschen ermöglicht wird, die Schwierigkeiten haben, sich an einen bestimmten Ort zu begeben. Weil sie zu alt, ans Bett gebunden, nicht mobil oder beispielsweise alleinerziehend sind.
Die Theatermenschen sind hart getroffen von der Pandemie. Wie groß ist die Bereitschaft unter SchauspielerInnen und RegisseurInnen, sich neue Räume zu erschließen oder alte zu erweitern?
Ich würde sagen, dass ist sehr individuell. Es gibt Häuser und Theatermenschen, die sich von dem elitären Gedanken, dass Theater nur analog und auf der Bühne stattfinden kann und darf, nicht trennen können. Dieser Gedanke hat aber etwas Starres und Lähmendes an sich und ist eigentlich eine Todeserklärung an das Theater. Wann, wenn nicht jetzt gibt es so viel Motivation, Theater noch mal anders zu denken. Natürlich ist das Erschließen neuer Räume ein Aufwand. Arbeitstechnisch und finanziell. Aber wir können nur gewinnen. Die fehlende Bereitschaft, sich der Herausforderung einer Veränderung zu stellen, ist eine Entscheidung. Die allerdings auch die Verantwortung in sich trägt, dass viele Menschen ihren Beruf gerade nicht ausüben können.
Gelegentlich hat man den Eindruck, es geht sehr viel Energie ins Jammern.
Es gab die Zeit der Schockstarre, die Zeit des Jammerns, die Zeit der Wahrnehmung. Inzwischen ist aber sehr viel angekurbelt und versucht worden. Laufende Prozesse wurden umgedacht. Aber ja, es gibt sie noch, die Verweigerer dieser neuen Realität. Die Dinosaurier des Theaters. Und das Schicksal der Dinosaurier ist bekannt. Energie in Diskussionen zu verschwenden, ob wir nun systemrelevant sind oder nicht, ob sich bei einem Theaterbesuch weniger oder mehr Menschen mit dem Virus infizieren als beim Einkauf im Supermarkt, ob man noch von Theater sprechen kann, wenn es digital ist, all das bringt uns nicht weiter. Was aber geschieht, wenn wir unsere Komfortzone verlassen, kann man tagtäglich beim Streamen erleben und es wird nachhaltig auch das analoge Theater verändern. Auf eine kreative und spannende Art. Da bin ich mir sicher.
Interview: Heinrich Schwazer
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