Eine noch unbekannte neue „Normalität“
Das Museum Gherdëina startet heute eine Vortragsreihe zur Geschichte und Zukunft der Kulturlandschaft – nicht nur in Gröden. Ein Gespräch mit der Museumsdirektorin Paulina Moroder.
Tageszeitung: Frau Moroder, das Museum Gherdëina setzt sich anknüpfend an das „Mejes“-Projekt in einer Online-Vortragsreihe mit dem Thema Kulturlandschaft als historisch gewachsener Lebensraum auseinander. Was darf man sich darunter vorstellen?
Paulina Moroder: Die drei Vorträge nähern sich der Berglandschaft als einem vom Menschen bewohnten, genutzten und beanspruchten Lebensraum. Es geht um ästhetische, kulturanthropologische und gesellschaftliche Diskurse, die daran arbeiten, geschichtsbewusstes Denken und Handeln zu fördern, um Dynamik der kulturellen Identitäten in uns bewusst zu machen.
Den Anfang macht diesem Freitag die emeritierte Professorin für Ästhetik an der Universität Pavia, Luisa Bonesio mit einem Vortrag über Tourismus und Kulturlandschaft im Spannungsfeld zwischen Nostalgie und Bespielung. Ein brennendes Thema in Gröden.
In der komplexen gegenwärtigen Situation, die auch durch eine dramatische globale Umweltkrise gekennzeichnet ist, sollten wir umso mehr über die Bilder nachdenken, die ausgehend von der Werbung und den Medien über Orte und ihre Identitäten konstruiert werden.
Der zweite Gast ist der Kulturanthropologe und ehemalige Präsident des italienischen Alpenvereins CAI sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Dolomiten Unesco, Annibale Salsa. Worüber wird er sprechen?
Annibale Salsa hat das Vorwort zum Bildband der Ausstellung „Mejes“ mit den über 200 Schwarz-Weißfotografien alter Grödner Bauenrhöuser des Fotografen Vaclav Sedy verfasst. Mit ihm habe ich mich öfters über die Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit der von der UNESCO vorgenommenen Trennung zwischen Natur- und Kulturerbe ausgetauscht. Salsa begreift die Landschaft aus einem subjektiven Ansatz heraus, nicht als unberührte Wilderness abseits von uns Menschen existierend. In seinem Vortrag wird er u.a. über die tieferen Wurzeln der Nachhaltigkeit sprechen, die aus der Zusammenführung von Kultur und Natur in unserem Denken und Handeln sprießen können.
Zum Abschluss spricht der Philosoph und Architekt Martino Mocchi über das Konzept des „Paesaggio sonoro“, der Klanglandschaft. Was ist damit gemeint?
Dieses Konzept der Klanglandschaft bewahrt viel Potential für Erkundungsfreude in sich. Martino Mocchi’s Beziehugn zur Landschaft bewegt sich nämlich im experimentellen Grenzbereich der Wahrnehmung von Orten mit all unseren Sinnen. Diese begünstigen seiner Ansicht nach unsere Konstruktion von Identitätsprozessen, erhöhen das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit zum Territorium und verbessern die Beziehung zwischen menschlichen Aktivitäten und der Umwelt.
Die Vorträge wollen auch Anregungen für mögliche nachhaltige Entwicklungen sein. Woran denken Sie dabei?
In einer Zeit großer Umwälzungen, wie wir sie gerade erleben, hat die Veränderung einiger unserer Lebens- und Wohnpraktiken deutlich gemacht, dass viele von uns mit anderen Augen in eine noch unbekannte neue „Normalität“ zurückkehren möchten. Die Online-Vorträge sind eine Möglichkeit, um in dieser pandemischen Zeit gemeinsam über langfristige und sozial tragbare Wege zu reflektieren, die einen rücksichtsvollen Umgang mit Landschaft und Kulturerbe voraussetzen, um diese unersetzlichen Ressourcen nicht für die zukünftigen Generationen aufzubrauchen.
Der Historiker Josef Nössing erforscht derzeit im Auftrag des Museum Gherdëina die Haus- und Hofgeschichte in Gröden und geht dabei bis ins 10. Jahrhundert zurück. Sind neue Erkenntnisse zu erwarten?
Zur frühen Geschichte von Gröden gibt es immer noch wenig Kenntnisse. Die aktuelle Studie von Dr. Nössing setzt daher bei dieser Forschungslücke zwischen den Erkenntnissen aus den archäologischen Funden und den ersten schriftlichen Zeugnissen an. Seine Untersuchung der ältesten verfügbaren schriftlichen Quellen unter Einbeziehung der neuesten Ergebnisse aus anderen Disziplinen wird uns daher neue Einblicke in die Geschehnisse rund um den mittelalterliche Siedlungstätigkeit in Gröden als Teil der strategischen Kolonisation alpiner Gebiete durch weltliche und kirchliche Herrschaften mit weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Implikationen. Es ist auch ein Beitrag zur Geschichte der Höfe unser Talschaft.
Das mehrjährige Projekt „Mejes – Bauernhöfe in Gröden: Gedächtnis einer Landschaft“ setzt sich für die Erhaltung historischer Höfe ein. Was hat sich in der Zwischenzeit getan?
Die seit nun einem Jahr anhaltende sanitäre Krise hat natürlich das Projekt de „Mejes“-Wanderausstellung vorerst wegen der Planungsunsicherheit eingebremst. Wir arbeiten daher momentan im Bereich der Forschung und Vermittlung, mit dem Ziel der Aufwertung des lokalen Kulturerbes, zu dem auch die historischen Bauten zählen, um letztlich in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung unseres alpinen Lebensraums im globalen Kontext zu schärfen.
Interview: Heinrich Schwazer
Info: Die Teilnahme an den Vorträgen ist kostenlos via Zoom möglich, der Link wird über die Social-Media-Kanäle des Museums verbreitet und findet sich auch auf der Website www.museumgherdeina.it.
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