Was ist Kreativwirtschaft?
Europaweit betragen die wirtschaftlichen Verluste des Kultursektors im Jahr 2020 fast 200 Milliarden Euro, doch die katastrophale Lage der Kulturschaffenden in der Corona-Pandemie wird noch immer nicht ernstgenommen und ihr wirtschaftliche Bedeutung heruntergespielt. Eleonora Psenner hat für die Eurac die Südtiroler Kreativwirtschaft unter die Lupe genommen.
Tageszeitung: Frau Psenner, Sie haben für die Eurac die Südtiroler Kreativwirtschaft unter die Lupe genommen. Was ist Kreativwirtschaft und welche Branchen umfasst sie?
Eleonora Psenner: Die Arbeitsgruppe, die sich in Verbindung zur Forschungsstudie 2018-2019 gebildet hatte, umfasst Projektpartner der Studie (IDM als Auftraggeber, Eurac Research – Institut für Regionalentwicklung und Freie Universität Bozen – Fakultät für Erziehungswissenschaften) und Vertreter einzelner Kreativbranchen, darunter Architekten, Kommunikationsexperten, Designer und Creative Hubs. Elf Teilbereiche wurden in der Studie hervorgehoben und umfassen Sektoren aus der Kreativwirtschaft, die in Südtirol vertreten und klar zuzuordnen sind, nämlich Design, Film, Architektur, Musik, Radio & TV, Kommunikation & Werbung, Handwerk, Verlagswesen & Presse, Darstellende Künste, Bildende Künste, Software & Videogames. Mittels einer Serie von Diskussionsrunden und einer explorativen online Umfrage wurden qualitative und quantitative (allerdings nicht repräsentative) Daten zu insgesamt etwa 500 Vertretern der Kreativszene mittels Eurac Research gesammelt und ausgewertet. Diese wurden mit den Ergebnissen der Studie der Freien Universität Bozen ergänzt, welche sich auf Daten der in der Handelskammer registrierten Firmen bestimmter Kreativsektoren bezieht und deren wirtschaftliche Lage zwischen 2011 und 2018 vergleicht.
Im Zuge der Kreativwirtschaftsstudie einigte sich die Arbeitsgruppe über die folgende Definition von Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) für Südtirol:
„Zu den KKW gehören diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen mit kommerziellem Schwerpunkt, die sich mit der Schaffung, Produktion und dem physischen oder medialen Vertrieb von kreativen und kulturellen Gütern und Dienstleistungen befassen. Der kommerziell ausgerichtete Schwerpunkt jeder kulturellen und kreativen Wirtschaftstätigkeit ist der so genannte „kreative Akt“, der alle Inhalte, Werke, Produkte, Produktionen oder künstlerischen, literarischen, kulturellen, architektonischen oder kreativen Dienstleistungen betrifft, die die Grundlage der elf Teilmärkte bilden
Diese wurde inzwischen auch von anderen Vereinen, Verbänden und Organisationen im Lande übernommen und in deren neuen Richtlinien oder Maßnahmen-Katalogen integriert.
Wie viel erwirtschaftet die Kreativwirtschaft insgesamt, welche Wertschöpfung generiert sie und wie viele Personen beschäftigt sie?
Aus der Vergleichsstudie der Freien Universität Bozen – Fakultät für Erziehungswissenschaften, die im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojektes ausgeführt wurde, gehen folgenden Ergebnisse zur Kreativwirtschaft hervor: Auf lokaler Ebene kann man feststellen, dass die Gesamtzahl der in der Autonomen Provinz Bozen tätigen Unternehmen im Jahr 2011 1.257 und im Jahr 2017 1.276 betrug, mit einer Differenz von +1,5% in den untersuchten Jahren. Auch die Zahl der Beschäftigten stieg von 4.713 im Jahr 2011 auf 4.989 im Jahr 2017, und in dieser Dimension beträgt die Differenz +4,8%.
Die zweite Ebene der Analyse bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der gesamten produktiven Dimension der Autonomen Provinz Bozen und den Sektoren der KKW in den Jahren 2011 und 2017. Dank der Daten ist es möglich zu beobachten, dass im Jahr 2011 die Gesamtzahl der in der Provinz tätigen Unternehmen 56.733 betrug, mit einer Gesamtzahl von 262.549 Beschäftigten. Im Jahr 2017 stieg die Zahl der im Raum Bozen tätigen Unternehmen (58.390), wobei die Zahl der Beschäftigten leicht zurückging, auf 258.268. Der Vergleich mit den im gleichen Zeitraum tätigen KKW zeigt, dass im Jahr 2011 der Anteil der Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft 2,21% der Gesamtzahl der Unternehmen ausmachte, und bei den Beschäftigten lag dieser Prozentsatz bei 1,79%. Im Jahr 2017 zeigen die Daten, dass sich prozentual fast nichts geändert hat, insbesondere betrug der Anteil der KKI im Verhältnis zum gesamten lokalen Produktionssektor 2,19 %, und bei den Beschäftigten lag er bei 1,91 %.
Welche Branchen sind die umsatzstärksten?
Der Teilsektor Design wuchs zwischen 2012 und 2018. Die Zahl der Unternehmen stieg von 90 auf 112 (+24,5%), und der Gesamtwert der Produktion und der Gesamtbruttoeinnahmen nahmen ebenfalls proportional zu. Die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten ging jedoch zurück. Die Befragten gaben an, dass sie von mehr Unterstützung in der Aus- und Weiterbildung sowie in der Kommunikation profitieren könnten, um ihr Unternehmen und Standards weiterzuentwickeln. Sie wiesen auf eine große Schwäche im Hinblick auf den Bereich der Internationalisierung sowie im Vertrieb und Management hin. Für die Zukunft wünschen sich die Befragten eine stärkere Bindung zum Handwerk.
Wie ist die Situation in der Filmwirtschaft?
Die quantitative Analyse des Teilsektors Film und des Teilsektors Radio & TV wurde zusammengestellt. Zwischen 2012 und 2018 ist zu erkennen, dass sowohl der Durchschnitt des Outputs als auch der Durchschnitt der Bruttoeinnahmen gesunken ist. Die Zahl der Unternehmen ist von 86 auf 103 gestiegen, ebenso wie die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten. Im Hinblick auf den Teilsektor Film und die im Rahmen der explorativen Umfrage gesammelten Ergebnisse scheint es, dass die Befragten mehr Unterstützung in der Vernetzung, sowie in finanziellen Aspekten und Einrichtungen benötigen.
Kommen wir zur Architektur.
Der Teilsektor Architektur ist in seiner Zusammensetzung komplex, da er sowohl Unternehmen als auch Freiberufler umfasst. Für die quantitative Analyse konnten nur die Unternehmen gezählt werden, die mit einem ATECO-Code bei der Handelskammer registriert sind, während die Freiberufler nicht berücksichtigt wurden. Ein vollständiges Bild der aktuellen Situation, der im Teilbereich Architektur tätigen Unternehmen und Freiberufler, ist somit statistisch gesehen nicht möglich. Die Architektenkammer Südtirol selbst umfasste zum Zeitpunkt der Datenerhebung 1.151 Architekten. Bezogen auf die Stichprobe, die für die quantitative Analyse verwendet wurde, zeigen die Ergebnisse, dass die Zahl der Beschäftigten zwischen 2012 und 2018 radikal gestiegen ist, während die durchschnittlichen Bruttoeinnahmen nahezu stabil geblieben sind (469.684 Euro im Jahr 2018) und die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten zurückgegangen ist.
Wie ist die Situation der Musiker?
Den quantitativen Daten zufolge ist der Teilsektor Musik im Laufe der Jahre ziemlich stabil geblieben, mit einem leichten Rückgang der Unternehmen (von 23 auf 20) und einem leichten Anstieg der Gesamtzahl der Beschäftigten (von 15 auf 18). Nach den im Rahmen der explorativen Umfrage gesammelten Ergebnissen benötigen die Befragten von Musik mehr Unterstützung und Beratung im Bereich finanzieller Fragen und Einrichtungen sowie bei Marketing und Werbung.
Wie schaut es im Sektor Bildende Kunst aus?
In der quantitativen Analyse wurden die Teilsektoren Darstellende Kunst und Bildende Kunst zusammengefasst. Die Ergebnisse zeigen, dass die Gesamtzahl der Beschäftigten stark gestiegen ist und im Jahr 2018 701 Beschäftigte erreicht hat. Auch die Zahl der Unternehmen ist gestiegen, ebenso wie der durchschnittliche Bruttoumsatz, der im Jahr 2018 800.807 Euro erreichte. Die Ergebnisse der explorativen Umfrage zeigen, dass sowohl der Teilsektor Darstellende Kunst als auch der Teilsektor Bildende Kunst Unterstützung in den Bereichen Marketing und Werbung benötigen würden.
Die Befragten der Darstellenden Künste sind der Meinung, dass der Teilsektor mit der finanziellen Unterstützung der Provinz, mit ihrem eigenen Produkt- und Dienstleistungsangebot und mit Hilfe spezialisierter Humanressourcen wettbewerbsfähig bleiben könnte. Ein großes Zukunftspotential sehen die Darstellenden Künste in der Zusammenarbeit mit der Bauindustrie, Lebensmittelproduzenten und privaten Stiftungen.
Wie ist die Situation im boomenden Sektor Software & Videospiele?
Der Teilsektor Software & Videospiele hat seine Gesamtzahl der Beschäftigten im Jahr 2018 im Vergleich zu 2012 fast verdoppelt, aber der durchschnittliche Bruttoumsatz ist gesunken. Die Zahl der Unternehmen stieg von 262 auf 315, und der Gesamtwert der Produktion erhöhte sich und erreichte 2018 146.462.521 Euro.
Kreativ und Wirtschaft – das sind längst zwei zusammenhängende Begriffe. Wie kreativ ist Südtirols Wirtschaft?
Die Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) zeichnet sich durch ihre intrinsische Fragmentierung und Fragilität aus. Gleichzeitig ist es die Vielfalt und der Überlebensgeist der Akteure innerhalb der kreativen Branchen, welche die Kultur- und Kreativwirtschaft zu einer resilienten und pulsierenden Ader der Gesellschaft machen. Um die Entfaltung der Kultur- und Kreativsektoren in Südtirol zu gewährleisten und ihre Positionierung auf regionaler Ebene zu unterstützen, brauchen sie mehr Sichtbarkeit und Stimme, sowie die Chance, im Sinne einer nachhaltigen und inklusiven Regionalentwicklung als Einheit aktiv mitwirken zu können.
Kreativwirtschaft wird häufig als Innovationsmotor bezeichnet. Lässt sich das belegen?
Unsere Studie konzentrierte sich speziell auf die Profilierung der Kreativwirtschaftssektoren in Südtirol, den sektorübergreifenden Verknüpfungen und sog. „Spill-over-Effekten“. Zudem möchte sie auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten auf Regionalpolitik-Ebene hinweisen. Auch angesichts der Chancen, die Europa bietet, wird immer deutlicher, welche Rolle die Kreativwirtschaft als Innovationsmotor und transversaler Impulsgeber für andere Sektoren spielen kann.
Wie würden Sie die Stärken und Schwächen der Kreativwirtschaft zusammenfassen?
Wie die Studie zeigt, wird von den Vertretern der Kultur- und Kreativwirtschaft das Gebiet Südtirol als eine der größten Stärken wahrgenommen. Dazu gehört Vieles: die Mehrsprachigkeit, die Landschaft, mindset und Lebensstil, sowie das vielseitige Freizeitangebot. Zudem gelten als Stärken auch die gute Vernetzung der Unternehmen innerhalb der KKW, deren Vielfalt, sowie Marktchancen und die Tatsache, dass Kreativität zu Spill-over-Effekten beiträgt. Zu den Schwächen im Südtiroler Kontext gehören hingegen, laut Teilnehmer der Studie, u.a. die knappe Marktpräsenz der KKW und der Mangel an Raum und Infrastruktur für kulturelle Veranstaltungen. Für die Zukunft stellen Kreativität und Internationalisierungsprozesse eine große Chance für die Weiterentwicklung der Kreativbranche dar. Vertreter der KKW stellen die Nützlichkeit einer einheitlichen Plattform für die Kreativwirtschaft in Aussicht. Sie weisen auf die Notwendigkeit eines zentralen Bezugspunktes oder Servicebereiches hin, an den sich die Kreativen und Kulturschaffenden in Südtirol wenden können und von dem sie, in ihrer Gesamtheit, vertreten werden. Allgemein gilt als Hindernis für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der KKW in Südtirol das Gefühl der Isolation, sowohl geographisch als auch wirtschaftlich betrachtet.
Was muss geschehen, um die Kreativwirtschaft sichtbarer und standfester zu machen?
Es gilt Kunst und Kultur zugänglicher zu machen, Synergien zu schaffen und den Kontext für „gemeinsame Politiken“ zu schaffen. Ob sich die KKW in Südtirol als transversale Kraft für Innovation in anderen Sektoren durchschlagen wird, und/oder man sie verstärkt im Sinne einer Kultur-geleiteten Regionalentwicklung fördert, wird sich bald zeigen. Verschiedene Ämter, Organisationen und Verbände, sowie auch wir als Forschungspartner sind bereit, Kreativen und Kulturschaffenden in dieser Entwicklung Unterstützung zu leisten. Eines ist sicher, im Kreativkessel brodelt es schon seit einer Weile und an Ideen und Talenten fehlt es im Lande bestimmt nicht.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Eleonora Psenner (Kulturmanagerin und Forscherin) begann ihren künstlerischen Weg im Bereich der Darstellenden Künste (zeitgenössischer Tanz, Musicals und Theater) und setzte ihre berufliche Reise im Bereich Dokumentarfilm und im Event- und Tourismussektor fort. Heute forscht sie als Wissenschaftlerin bei Eurac Research zu Themen der Kultur- und Kreativwirtschaft in Verbindung mit Regionalentwicklung. Zu ihren jüngsten Forschungsprojekten gehören eine explorative Analyse und Konzeptentwicklung zur Kreativwirtschaft in Südtirol (2017-2020) und das AMIF-VOLPOWER Projekt, das sich mit Freiwilligenarbeit und Empowerment durch kulturelle und künstlerische Tätigkeiten für multi-kulturelle Jugendgruppen befasst. Sie setzt sich für eine nachhaltige Entfaltung der kreativen Sektoren und für inklusive Gemeinschaftsinitiativen in der Region ein u.a. als Mitglied von Creative Industries South Tyrol, Euregio Lab 2020 zu kulturellen Wurzeln und Perspektiven, dem neugegründeten Verein PERFAS Performing Artists South Tyrol, sowie der internationalen Arbeitsgruppe für „Culture and Territorial Transformation in Rural Areas“ mit ENCC-European Network of Culture Centers.
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