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Zukunft & Vergangenheit

ForscherInnen am Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte (v.l.) Joachim Gatterer, Oswald Überegger, Francesca Brunet, , Siglinde Clementi, Karlo Ruzicic Kessler: Wir wollen Regionalgeschichte noch stärker als das bisher der Fall war, unter die Menschen zu bringen. (Foto: Alexander Erlacher | unibz)

 

Das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen geht in der Geschichtsvermittlung neue Wege. Erstmals gibt es heuer mit History on Tour ein attraktives Vortragsprogramm für Bildungs- und Kulturvereine. Ein Gespräch mit dem Direktor Oswald Überegger.

Tageszeitung: Herr Überegger, die Initiative History on Tour  will Geschichte zu den Menschen in den Städten und Dörfern bringen. Wie geschichtsinteressiert oder geschichtsvergessen sind die Südtiroler?

Oswald Überegger:  Mein Eindruck ist, dass das Interesse an Geschichte in Südtirol sehr groß ist. Vielleicht – historisch bedingt – auch größer als anderswo. Unser heutiges Südtirol hängt ja ganz unwillkürlich mit den zeithistorischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts zusammen – mit der Abtretung Südtirols an Italien im Vertrag von St. Germain, mit der Epoche der beiden Weltkriege und dem Weg hin zur Südtirol-Autonomie nach 1945, um nur einige zu nennen. Das Interesse, darüber Bescheid zu wissen, wo die eigenen Wurzeln liegen, ist in Südtirol deshalb überaus präsent. Ich erinnere mich noch gerne an die Vortragsreihen zurück, die wir in den vergangenen Jahren organisiert haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: etwa an den Eröffnungsvortrag des österreichischen Historikers Manfried Rauchensteiner zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Einer der größten Hörsäle an der Uni war bis auf den letzten Platz besetzt. Und dieser Hörsaal fasst rund 160 Hörer.

Historische Vortragsreihen bietet das Zentrum seit seiner Gründung im Jahr 2013 mit großem Erfolg an. Was ist neu an der Initiative History on Tour?

Das eigentlich Neue an „History on Tour“ ist das Bemühen, Regionalgeschichte noch stärker als das bisher der Fall war, unter die Menschen zu bringen. In den letzten Jahren haben wir vornehmlich Veranstaltungen in den Universitätsstandorten organisiert; vor allem in Bozen und Brixen. Jetzt wollen wir noch einen Schritt weiter gehen. Wir möchten die Geschichtsinteressierten nicht nur zu unseren Veranstaltungen an der Universität bringen; sondern es geht im Rahmen von History on Tour darum, gemeinsam mit den Kultur-, Bildungs- und Geschichtsvereinen regionalgeschichtliche Veranstaltungen ‚vor Ort‘ anzubieten. Wir möchten den Menschen dort begegnen, wo sie ihr Lebensumfeld haben. Ich denke, dadurch kann sich eine noch entspanntere Diskussion und ein ungezwungener Austausch ergeben.

Das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen ist ein Forschungszentrum. Was hat den Ausschlag gegeben, den Elfenbeinturm der Universität zu verlassen und sich in der Weiterbildung für ein breites Publikum zu engagieren?

Zwei konkrete Impulse möchte ich nennen: Zum einen war es uns immer schon ein großes Anliegen, die am Zentrum durchgeführte Forschung unter die Menschen zu bringen. Meist ist es ja so, dass die streng wissenschaftliche Forschung für etwaige Interessierte schwer greifbar ist. Wissenschaftliche Beiträge werden meist nur in Fachzeitschriften oder thematisch sehr spezifischen Publikationen und Sammelbänden veröffentlicht. Deshalb ist diese Vermittlungsschiene über History on Tour auch eine Möglichkeit, die Geschichtsinteressierten in Südtirol an unseren Forschungen stärker teilhaben zu lassen. Und zwar in einfacher, verständlicher Sprache und interessanter Aufmachung. Zum anderen war einfach auch das große Interesse an unserer Arbeit ausschlaggebend. Es hat uns bestärkt, diesen Weg zu gehen. Unsere Veranstaltungen waren, wie gesagt, stets gut besucht. Und aus dem ganzen Land haben uns immer mehr Anfragen für Vorträge erreicht. Der Gedanke, der hinter der Initiative steckt, ist dem Bedürfnis geschuldet, den im Bildungs- und Kultursektor tätigen Vereinen ein anspruchsvolles Vortragsangebot zur Verfügung zu stellen. Und zwar ein Angebot, auf das sie in ihrer wichtigen Bildungsarbeit ‚vor Ort‘ zurückgreifen können. Wir möchten sie dabei unterstützen.

Welche Vorträge stehen auf dem Programm?

Für die Jahre 2021 und 2022 bieten wir insgesamt fünf regionalgeschichtliche Vorträge an. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums beteiligen sich an der Initiative. Das Themenspektrum ist ganz bewusst breit angelegt und spiegelt die vielfältige Forschung wider, die an unserem Zentrum betrieben wird: Von den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Südtirol und der Geschichte Südtirols im Kalten Krieg hin zum kritischen Südtirol-Blick des Journalisten und Historikers Claus Gatterer – einem Pionier der modernen regionalen Zeitgeschichtsforschung. Und von Aspekten der Tiroler Kriminalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts hin zu frauen- und geschlechtergeschichtlichen Themen und Fragestellungen. Es war uns wichtig, in diesem Programm möglichst unterschiedliche Themen, Zugänge und Perspektiven anzubieten.

Krieg, Faschismus, Option sind die Themen aus der Lokalgeschichte, die den Menschen unter die Haut gehen, also „unsere“ Geschichte. Interessieren sich die Südtiroler hauptsächlich dafür oder auch für andere Themen?

Ja, die genannten ‚Klassiker‘ der Südtiroler Zeitgeschichte sind anhaltend stark nachgefragt. Ich selbst habe zu vielen dieser Themen geforscht und spüre sehr stark, dass es nach wie vor diese Themen sind, die für die Geschichtsinteressierten im Land relevant sind. Wahrscheinlich liegt das aber auch daran, dass es vornehmlich diese Inhalte waren, die in Südtirol bisher thematisiert und angeboten wurden. Die Offenheit für ‚andere‘ Themen ist aber durchaus gegeben. Ein Beispiel: Gern erinnere ich mich etwa an die Vortragsreihe zu „500 Jahre Reformation“ zurück, die unser Zentrum anlässlich des Lutherjahres 2017 organisiert hat. Das ist vielleicht ein Thema, das in Südtirol nicht unbedingt auf der Hand liegt. Trotzdem waren – und das hat uns alle überrascht – die Hörsäle regelmäßig voll. Ich möchte das so interpretieren, dass es auch eine Frage des Angebots ist. Die Südtirolerinnen und Südtiroler sind durchaus auch für Themen zu haben, die sich nicht unbedingt in die Logik des üblichen Interessenshorizontes einfügen.

Die Reaktionen auf geschichtliche Themen sind außerhalb der Universitätsmauern häufig völlig andere als im geschützten wissenschaftlichen Ambiente. Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihren Vorträgen gemacht, wie reagieren die Zuhörer?

Mich hat im Rahmen meiner Vorträge draußen in den Dörfern immer die auffallend hohe Aufmerksamkeit des Publikums begeistert. Eine interessierte Aufmerksamkeit, die man bei den Studierenden manchmal vermisst. Sehr stark ist auch das Bemühen erkennbar, die regionalen, nationalen oder auch internationalen historischen Entwicklungen mit der Geschichte des eigenen Dorfes abzugleichen, also Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Manchmal ergeben sich auf diese Weise die spannendsten Diskussionen. Und genau das möchten wir erreichen: Nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch eine Diskussion über die verschiedensten Themen der Landesgeschichte anregen.

Gibt es auch Widerspruch, vielleicht sogar wütende Reaktionen?

Ja, auch das gibt es natürlich. Ich habe diesbezüglich schon alles erlebt: von begeisterter Zustimmung bis hin zu empörter Ablehnung. Letztere dringt hie und da vor allem bei Interessierten durch, die mit vorgefertigten politischen oder ideologischen Überzeugungen zur Veranstaltung kommen. Die Enttäuschung ist dann groß, wenn die Fakten oder die historische Interpretation des Referenten vom eigenen Geschichtsbild ganz beträchtlich abweichen.

Aus der Geschichte kann man lernen hat schon Cicero gesagt. Kann die Regionalgeschichte zu dieser Hoffnung beitragen?

Das ist die berühmte Formel „Historia magistra vitae“. Ich vertraue fest darauf und hätte wahrscheinlich Beruf verfehlt, würde ich das nicht tun.

Die Initiative steht unter der Schirmherrschaft von LH Arno Kompatscher, der damit die Hoffnung verbindet, „gesellschaftliche Orientierung“ zu vermitteln. Kann Geschichte das?

Auch diesbezüglich ein (fast) uneingeschränktes ‚Ja‘. Orientierung ist natürlich nicht im Sinne irgendeiner politischen oder ideologischen Mobilisierung zu verstehen. Das wäre ein instrumentelles Verständnis von Geschichte. Ich denke da eher an eine gesellschaftliche Orientierung, die ihre Kraft aus jenem zuvor angesprochenen „Historia magistra vitae“ schöpft. Geschichte und die Einordnung historischer Entwicklungen sind als bildungspolitischer Faktor zu sehen. Historisches Wissen ermöglicht und erleichtert es auch, Position beziehen und mitdiskutieren zu können. Denn – und ich komme auf das zurück, was ich eingangs schon erwähnt habe – das Südtirol von heute ist auf untrennbare Weise verbunden mit der näheren und ferneren Geschichte dieses Landes. Nur wenn man über diese Geschichte Bescheid weiß, wird man auch die eigene Gegenwart besser einordnen und interpretieren können. Zukunft basiert also auf einer orientierenden Vergegenwärtigung der Vergangenheit.

Die Vorträge werden Bildungs- und Kulturvereinen angeboten, die die Organisation übernehmen. Erweitert das den Zuspruch?

Ja, aber nicht nur das. Was wir anstreben ist eine Art ‚Joint Venture‘ – eine intensive Zusammenarbeit mit den Vereinen ‚vor Ort‘. Die Vereine können am besten beurteilen, wo die Interessen der jeweiligen Bevölkerung oder spezieller Zielgruppen liegen. Es ist also eine Win-win-Situation: Wir stellen unsere Forschungs- und Vortragskompetenz zur Verfügung, und bei den kooperierenden Vereinen liegt die Entscheidungskompetenz, wo und in welchem organisatorischen Rahmen Vorträge aus dem History-on-Tour-Programm auch in ihrer Gemeinde stattfinden können. Wir freuen uns jedenfalls schon auf die ersten Vorträge, auch in der Hoffnung, dass die Überwindung der Corona-Krise derlei Veranstaltungen bald einmal zulassen wird.

Interview: Heinrich Schwazer

 

History on Tour

Bildungs-, Kultur- und Geschichtsvereine können die Vorträge durch Kontaktaufnahme mit den einzelnen Historikerinnen und Historikern des Kompetenzzentrums buchen. Alle Vorträge werden sowohl in deutscher als auch in italienischer Sprache angeboten. Nähere Informationen finden sich in der Begleitbroschüre der Initiative, die über das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte bezogen oder auf der Homepage des Zentrums heruntergeladen werden kann (https://www.unibz.it/de/home/research/competence-centre-regional-history/).

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