Wir sitzen alle im gleichen Boot
Max von Pretz ist der Geschäftsführer des Südtirol Jazzfestivals. Jetzt beerbt er Norbert Dalsass als musikalischen Leiter des Jazzprogramms der Brixner Dekadenz. Wie kam er zum Jazz, was plant er und wer sind seine musikalischen Favoriten?
Tageszeitung: Herr von Pretz, Sie beerben Norbert Dalsass als musikalischen Leiter der Dekadenz. Coronabedingt nicht gerade der einfachste Moment.
Max von Pretz: Ja, leider wurde meine Vorfreude auf mein erstes Jazz-Programm in der Dekadenz von der Pandemie jetzt ziemlich ausgebremst und wir müssen, wie aktuell alle in der Kulturszene, improvisieren. Ich freue mich aber, dass das Dekadenz Team die Köpfe nicht gänzlich in den Sand steckt und wir unserem treuen Jazzpublikum mit dem Live-Stream heute Abend, in Zusammenarbeit mit dem Südtirol Jazzfestival, eine tolle Alternative bieten können.
Wie geht es den Jazzern in der Pandemie? So miserabel wie allen Musikern oder noch schlechter?
Es sitzen zurzeit wohl alle im gleichen Boot. Jazz ist zusätzlich noch eine Nische. Es ist für Jazz-Künstler*innen also besonders schwer, sich mit Plattenverkäufen und Streaming-Angeboten über Wasser zu halten.
Erzählen Sie uns, wie Sie zum Jazz gekommen sind, was diese Musik für Sie ist und was Sie daran begeistert.
Meine Schwester Sabine hat mir, als ich noch fast ein Kind war, die frisch erschienene CD des Duos „Chrisalide“ (Chris Pescosta und Alex Trebo aus dem Gadertal) geschenkt. Das war mein erster richtig greifbarer Kontakt mit Improvisation in der Musik. Begeistert von dieser Art Musik zu machen, habe ich dann bald alle bekannten Swing- und Blues-Klassiker rauf und runter gehört. Durch Konzertbesuche und später eine Praktikumsstelle beim Südtirol Jazzfestival hat sich dann die wunderbare Welt des zeitgenössischen Jazz für mich aufgetan. Die Freiheit und das ständige Überraschungsmoment dieser Musik, das Brechen mit jedem vorgegebenen Schema, war für mich derart beeindruckend, dass ich heute eigentlich fast nichts anderes mehr hören kann, ohne schnell gelangweilt zu sein.
Boris Vian hat das Nitzsche-Zitat „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ in „Ohne Jazz wäre das Leben ein Irrtum“ abgewandelt. Einverstanden?
Absolut einverstanden! Über die Jahre habe ich so wunderbare Momente bei Konzerten erleben dürfen – das möchte ich niemals missen. Wenn wir nur noch auf die Musik limitiert würden, die im Mainstream-Radio zu hören ist, dann wäre das ein Jammer.
Spielen Sie selbst auch ein Instrument
Ich kann ein bisschen Klavier spielen, fühle mich da allerdings eher im Blues und Rock & Roll zu Hause. Leider reichen meine Fähigkeiten an den Tasten allerdings mit Abstand nicht für eine Karriere als Jazzer…
Wie viele Platten stehen in Ihrem Regal?
Tatsächlich gar nicht mal so viele. In Zeiten von Spotify & Co. sind Platten ja oft eher Staubfänger als praktisch. Einige meiner Lieblingsalben und Erinnerungsstücke sind aber natürlich stolz in meinem Wohnzimmer aufgereiht.
Charlie Parker, John Coltrane, Miles Davis – welcher von diesen Klassikern ist Ihr Favorit und warum?
Sehr schwierig… Bei Musikern dieses Kalibers möchte ich mich nur ungern auf einen einzigen festlegen. Am liebsten Coltrane und Davis auf derselben Platte, das ist natürlich Wahnsinn. Die beiden sind mir aufgrund ihrer großen Experimentierfreudigkeit vielleicht auch etwas näher als Parker.
Die junge Jazzszene ist sehr vielfältig und manches wirkt sehr weit entfernt von der Jazztradition. Welche Bands und Musiker stehen momentan auf Ihrer Favoritenliste?
Aktuell finde ich die Szene in Österreich besonders spannend. In diesem Jahr feiert zum Beispiel „Mario Rom’s Interzone“ 10-jähriges Jubiläum mit einem neuen Album, das sie, sofern pandemiebedingt möglich, am 28.01. auch in der Dekadenz präsentieren werden. Highlights der letzten Jahre waren für mich bestimmt auch Lukas Kranzelbinder’s „Shake Stew“ und „Edi Nulz“. Abseits von den Österreichern habe ich letztens auch viel Mark Guilana’s neues „Beat Music“ Album gehört, das finde ich großartig, und natürlich immer wieder „Now vs. Now“ von Jason Lindner, davon kann ich mich nicht satthören.
Seit sechs Jahren sind Sie Geschäftsführer des Südtirol Jazzfestivals. Jetzt sind Sie selbst in der Rolle des Programmmachers. Wie packen Sie das an?
Als Norbert Dalsass mir angeboten hat im Anreiterkeller das Jazz-Programm von ihm zu übernehmen, habe ich mich wirklich riesig gefreut. Es ist eine spannende Herausforderung für mich von der Rolle des Produzenten in die Rolle des künstlerischen Leiters zu springen. Nach so vielen Besuchen von Jazzkonzerten in der Dekadenz ist es jetzt ein tolles Gefühl, den Jazzfans einige meiner persönlichen Favoriten selbst präsentieren zu können.
Die Kontakte über das Südtirol Jazzfestival dürften Ihnen bei der Programmerstellung sehr hilfreich sein.
Die Kontakte und Erfahrungen, die ich durch meine Arbeit beim Südtirol Jazzfestival sammeln durfte, sind mit Sicherheit ausschlaggebend für diese neue Aufgabe in meinem Leben. Im Rahmen meiner Tätigkeit beim Südtirol Jazzfestival, habe ich beim Festival selbst, bei anderen internationalen Jazzfestivals und auf Fachkongressen für Jazz in ganz Europa hunderte Konzerte gehört und ebenso viele Musiker*innen und Jazz-Fachleute kennengelernt. Dies erweist sich nun natürlich als riesiger Vorteil und versteht sich für mich als Voraussetzung, die Programmgestaltung in der Dekadenz zu übernehmen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Jazz war von Anfang an ein wichtiges Standbein der Brixner Dekadenz. Welches Erbe hinterlässt Ihnen Dalsass, der selbst Musiker ist?
Norbert hat in den vielen Jahren seiner Kuration tolle Arbeit geleistet und immer Mut bewiesen, dem Publikum auch experimentellere Projekte zu präsentieren. Es ist ihm durch seinen großen Einsatz und sein Durchhaltevermögen gelungen, über die Jahrzehnte eine treue Jazz-Anhängerschaft zu bilden und zu halten, die auch ohne die Projekte vorher zu kennen gerne ins Konzert kommt und sich auf Neues einlässt. Eine bessere Voraussetzung für eine Nachfolge kann ich mir nicht vorstellen.
Jazz ist ein Minderheitenprogramm. Ist das gut so?
Die Nähe der Künstler*innen zum Publikum bei kleinen Konzerten und die Intimität, die dadurch entsteht, finde ich sehr inspirierend. Selbstverständlich spricht Jazz und vor allem seine zeitgenössischen Interpretationen nicht die breite Masse an. Da ist es dann umso schöner, wenn jemand zufällig im Konzert landet und wider Erwarten begeistert nach Hause geht. Das passiert viel öfter als man denkt. Leider hat der Begriff Jazz per se oft schon eine abschreckende Wirkung auf Menschen. Das hat zur Folge, dass viele von vorneherein einen Konzertbesuch ausschließen. Diejenigen, die es trotzdem wagen, werden dann meist nachhaltig belohnt. Der moderne Jazz hat in all seiner Vielfalt so viel zu bieten, dass man meiner Ansicht nach nicht mehr in übergeordneten Kategorien denken sollte. Natürlich wäre es schön, wenn sich das Jazzpublikum in Südtirol in den nächsten Jahren wieder vergrößert. Ich habe den Eindruck, dass das im Kleinen bereits spürbar ist.
Als Programmgestalter denkt man unwillkürlich immer auch daran, was man den Zuhörern zutrauen und zumuten darf und soll. Wie offen ist das Südtiroler Publikum?
Ich habe das Südtiroler Publikum als sehr offen und neugierig kennen gelernt. Nachdem es bei uns ja nur sehr wenige Jazz-Veranstalter gibt, ist die Anzahl an Konzerten überschaubar. Neben den zugänglicheren Projekten kann man aber absolut auch Neues und Gewagtes buchen und die Leute nehmen das auch gut auf und lassen sich darauf ein. Es muss und soll natürlich keinesfalls jedes Mal ein Free Jazz Konzert sein. Alle Stilrichtungen sollen in guter Mischung einen Platz in der Konzertlandschaft haben und ihr Publikum finden dürfen.
Als erstes Konzert am 14. Jänner stand die österreichische Band „Purple is the Color“ auf dem Programm. Warum ist Ihre Wahl auf diese Band gefallen?
Purple is the Color habe ich bei meinem letzten Besuch beim Kick Jazz Showcase Festival 2019 in Wien live gesehen und habe mir gleich gedacht, dass sie super in die Dekadenz passen würden. Die Formation um den Pianisten Simon Raab hat mich mit ihren Kompositionen und der Energie, die sie auf der Bühne gezeigt haben, schnell überzeugt. Leider müssen wir das Konzert verschieben, da es aufgrund der aktuellen Covid-Bestimmungen nicht sinnvoll ist die Künstler jetzt nach Brixen zu holen. Das Konzert wird aber auf jeden Fall schnellstmöglich nachgeholt.
Das Konzert muss Corona bedingt verschoben werden. Stattdessen sind die Brixner Bassistin Ruth Goller, der britische Pianist Kit Downes und die Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch im Stream aus dem Anreiterkeller zu erleben. Eine spontane Formation?
Kurz vor Weihnachten habe ich Ruth Goller in anderer Sache kontaktiert und wusste deshalb, dass sie aktuell mit Kit Downes in Südtirol ist. Als wir dann entschlossen haben, einen Live-Stream aus dem Keller zu machen, sind mir die beiden gleich wieder eingefallen. Zufällig sind sie genau in dieser Woche mit Lucia Cadotsch in Südtirol, um genau für dieses neue Trio zu proben. Diese Gelegenheit wollten wir natürlich gleich ergreifen und haben in Zusammenarbeit mit dem Südtirol Jazzfestival den Live Stream auf die Beine gestellt. Ein glücklicher Zufall also, der uns heute die Live-Ausstrahlung eines fantastischen Konzerts mit drei Spitzenmusiker*innen ermöglicht. Es ist zudem die Weltpremiere ihres Projekts!
Streaming ist aktuell die einzige Möglichkeit, Konzerte zu erleben. Aber das wahre Jazzerlebnis ist es nicht.
Leider sind die Interaktion und die Energie, die man bei einem Konzertbesuch fühlt für mich über einen Monitor nicht gleichermaßen spürbar. Nachdem es aber im Augenblick wohl der einzige Weg ist, bin ich froh darüber, dass viele Veranstalter*innen und Künstler*innen diesen digitalen Weg nutzen und damit vielen Menschen in dieser verrückten Zeit einen schönen Konzertabend bereiten. Ich hoffe sehr, dass wir bald wieder alle gemeinsam musikalische Momente teilen können.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Max von Pretz wurde in Mittewald geboren und ist seit sechs Jahren Geschäftsführer des Südtirol Jazzfestival. Ab heuer leitet er das Jazzprogramm der Brixner Dekadenz.
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