„Uns lassen sie nicht los, die Gespenster“
Am 6. Oktober ist die Schriftstellerin und Überlebende des Holocaust Ruth Klüger in Kalifornien gestorben, am 30. Oktober wäre sie 89 Jahre alt geworden. 2013 war sie zu Gast bei den Literaturtagen Lana. Ein Nachruf von Christine Vescoli.
Sie wirkte unruhig, als sie in Lana ankam und in ihrer Handtasche wühlte. Sie suchte nach etwas und man stand ein bisschen überflüssig daneben, so sehr war sie in ihrem Suchen. Dann warf sie ihren weißen, widerborstigen Schopf hoch und Ruth Klüger, die 82-jährige deutsch-amerikanische Autorin, sagte: „Gehen wir. Ich höre Sie auch ohne Gerät.“ Dann gingen wir. Ohne Hörgerät. Und sie fing an zu fragen. Sie, eine der letzten Zeuginnen der größten deutschen Verbrechen, fragte mich, eine ihr bislang Unbekannte, die sie zur Eröffnung der Literaturtage Lana 2013 eingeladen hatte, sie fragte also mich, ob ich Kinder habe, was ich lese, was ich von der Bachmann halte, wo sie Schuhe kaufen könne. Sie fragte vieles und sie fragte präzise, während sie gleichzeitig wie ein Luchs um sich blickte. Ich antwortete und erzählte und sie, die ein Leben als Überleben zu erzählen hatte, hörte zu mit spitzen Ohren, warf Kommentare ein, unberechenbar und unnachahmlich in sprödem Witz und unverfroren in erfrischender Neugierde. Plötzlich brach sie ab und suchte wieder in ihrer Handtasche, die sie wie eine Einkaufstasche trug, niemals als Accessoire, eher als mehr oder weniger praktisches Anhängsel. „Jetzt rufen wir die Deutsche Bundesbahn an,“ sagte sie, „die müssen doch mein Hörgerät im Zug gefunden haben.“ Und wir riefen die Deutsche Bundesbahn an.
Das war meine erste Begegnung mit Ruth Klüger, der jüdischen Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, der weiblichen Stimme und Überlebenden des Holocaust, was ein unangemessener Begriff für das Gräuel des 20. Jahrhunderts ist, denn er bedeutet „Brandopfer“. Auch „Shoah“, was so viel wie „Naturkatastrophe“ heißt, ist im Grunde nicht richtig. Was im Nationalsozialismus passierte, war eine von Menschen geplante und gemachte Katastrophe am Menschen und dafür gibt es das Wort „Churban“. Darüber schrieb Ruth Klüger.
Bevor sie darüber schrieb, musste sie erst 60 Jahre alt werden. Sie musste erfahren, dass „das Weiterleben von alleine kommt und man nichts dazu tun muss, außer dem Umgebrachtwerden zu entgehen. Die Möglichkeit, getötet zu werden, haftet unsereinem nachher auch in Friedenszeiten im Hinterkopf.“ Mit 11 Jahren wurde die Tochter eines Arztes und einer Fabrikententochter zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt, später nach Auschwitz-Birkenau und dann nach Christianstadt transportiert. „Unvermutet“ blieb sie am Leben, schreibt sie, durch den Zufall, in dem im unwahrscheinlichsten Moment das Unwahrscheinlichste eintrat und eine Lagerinsassin ihr zuflüsterte, sie solle sich 2 Jahre älter ausgeben, als sie war. Für die Vernichtung bestimmt, entkam ihr Ruth Klüger durch ein Schlupfloch der Menschlichkeit, während Vater und Halbbruder ermordet wurden. Kurz vor Kriegsende gelang Tochter und Mutter die Flucht aus dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen, 1947 emigrierten sie in die Vereinigten Staaten, wo Ruth Klüger Germanistik studierte und zur angesehenen feministischen Literaturwissenschaftlerin wurde. Dass auch das nicht ohne Demütigungen und Kränkungen ablief, die sie als Frau und Jüdin in einer akademischen Männerwelt erlebt hatte, beschreibt sie in der ihr eigenen unverblümten Direktheit in „unterwegs verloren“ von 2008.
Ihr 1. Erinnerungsbuch erschien 1992 unter dem Titel „weiter leben. Eine Jugend“. Es ist ein Bericht von unbestechlicher Klarheit, die über Grausamkeit ebenso untrüglich urteilt wie über das Gute, das, vornehmlich von Männern, so gerne trivialisiert wird gegen das interessante und faszinierende Böse. Heute zählt der internationale Bestseller mit den Büchern von Primo Levi, Imre Kertész, Ilse Aichinger oder Paul Celan zu den wichtigsten Literaturen, die von der Katastrophe der Judenvernichtung Zeugnis ablegen wollen. Dass sie das im Letzten nie können, wissen sie alle, die von der unauflöslichen Differenz sprechen, in die sie zu sich selbst als Zeugen geraten. „Wir bilden keine Gemeinschaft mit den dort Umgekommenen,“ heißt es bei Ruth Klüger, „es stimmt einfach nicht, wenn ihr uns mit denen zusammenzählt“. Für die Zeugen, für die niemand zeugen kann, weil sie tot sind und ihre Erfahrung inkommensurabel ist, kann es keine Stimme geben, die solchem Unrecht gerecht würde. Aber es wird die Überlebenden nie etwas von dem Ort der Massenvernichtung trennen können, der für die Geschichte einen „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) bedeutet und für die, die mit dem Leben davon gekommen sind, dass sie „ein Leben lang etwas Mitgeschlepptes von diesem Ort durchspielen oder spielen“.
Eine Schwermut war in Ruth Klüger spürbar, wenn man ihrem Sprechen zuhörte. Auch ihre schnoddrige Keckheit, die ihrem kratzbürstigen Charme zuzurechnen war, war nur ein Teil davon. Der unerbittliche Ton, der daraus erwuchs, ist auch der ihres Schreibens, und man ahnte, dass solcher Schatten finster und bleiern ist und im Grunde unteilbar für die, die davon ausgeschlossen sind. „Uns geht es anders, uns lassen sie nicht los, die Gespenster, mein ich.“
Man hat Ruth Klüger oft Schroffheit und eine scharfe Zunge nachgesagt und dabei sicherlich eine spezifische Unnachgiebigkeit gemeint, die zurecht rückte, wenn falsche und ungerechte Tatsachen zur Normalität werden und wenn Angriffe auf Humanität und Würde gelassen hingenommen werden. Dagegen ging sie mit lakonischer Strenge und unsentimentaler Wut vor, die Kriegsverbrechen ebenso galten wie Frauenverachtung und Hass gegen Schwarze. Wo groteske Gegebenheiten der Existenz und infame Normen hingenommen werden, als wäre es nur eine Frage der Gewöhnung oder Camouflage, setzte Ruth Klüger den Zorn ein, der nötig ist, um den Schmerz nicht in die Vergessenheit zu verbannen und ebenso wenig in die Erstarrung zu treiben. „Das Prinzip Angst sollte es heißen, nicht das Prinzip Hoffnung“, ruft sie Ernst Bloch und seinem Utopiebegriff nach. Der ideologischen Formel setzt sie damit die Erfahrung der Angst und der Verzweiflung entgegen, aus der Mut wächst, ohne dass man mutig sein muss, und die Nüchternheit als Einsatz gegen Wahnsinn und Zerstörung. „Wer den Verstand nicht verlieren will, hat deshalb recht, weil der Verstand als menschliche Eigenschaft schlechthin uns so lieb sein muss wie die Liebe.“ Für solche Sätze zeugte Ruth Klüger ein ganzes Leben lang. Am 6. Oktober ist sie in Kalifornien gestorben, am 30. Oktober wäre sie 89 Jahre alt geworden.
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