Was geschah nun wirklich?
Kann man je von einem Leben sagen, dass es sich zu einem ganzen Leben fügt? Josef Oberhollenzers neuer Roman „Zuber Oder Was wir uns zu erzählen haben“
Von Christine Vescoli
Auf Seite 87, fast genau in der Mitte des Buches, gibt es eine Stelle, die sich wie sein poetisches und erzählerisches Programm liest: „Kann man je von einem Leben sagen, dass es sich zu einem ganzen Leben fügt? Nein, nein, wo nichts als Scheitern ist, nein! Wie sollen sich dann die Sätze fügen zu einem schön mäandernden Fluß? Zu einem Fluß, der in ein Meer mündet (um sich endlich auszuruhn?) oder in einen anderen Fluß, zu einer schon gelingenden Geschichte, zu einem (trotz allem) gelungenen Roman? Nur die Totenredner haben das Recht, das Ende eines Lebens als schnurgerade Folge eines Anfangs zu erzählen[…].“
Nichts in dem jüngst erschienenen Roman von Josef Oberhollenzer ist schnurgerade und folgerichtig. Nichts, das einen Anfang hätte, der nicht unterwandert wäre, oder ein Ende, das sich nicht wieder verlaufen würde. Nichts, das nicht verstrickt mit unzähligen Fäden, und nichts, das nicht verknotet mit vielerlei Gedanken wäre „Zuber. Oder Was werden wir uns zu erzählen haben“ ist ein Geflecht an Erzählung und erzählter Erzählung, an Erinnerung und erinnerter Erinnerung, es ist ein dichtes Prosagewebe, das mit jedem Versuch, es auseinanderzuklauben, an einen nächsten Strang, einen Song oder ein Zitat gerät, an eine nächste Fußnote oder Anekdote oder die Frage der Leserin, ob sich das oder jenes wirklich so zugetragen hat oder ob es nicht etwa trickreich erfunden oder gelungen erlogen ist.
Und damit ist man mitten im Ansinnen des Romans. Minutiös und gefinkelt setzt er einen ungeheuren Denkapparat in Gang, der unentwegt die Frage nach der Wirklichkeit stellt.
Das hat bei allem Schalk und Witz, den Josef Oberhollenzer vergnüglich ausspielt, etwas Unbedingtes und nicht zuletzt einen grundlegenden, auch methodischen, in Literatur übersetzten Zweifel. Er ist so sehr an die Frage nach der Erzählbarkeit gebunden, dass diese einem im Lesen förmlich an den Leib rückt. Was geschah nun wirklich, möchte man da ausrufen. Wie ging etwas wirklich zu, was da erzählerisch gebrochen und wie durch ein sprachliches Prisma unermüdlich gewinkelt und zerteilt, zerstreut und gespiegelt wird? Was geschah wirklich, nicht im Möglichkeitssinn, der denkbar alles gleich macht, sondern als Geschichte?
Wirklichkeit, führt uns der Roman in einem bravourösen Kunstakt vor, liegt nicht vorgegeben zum Zugriff da, in dem sie beschreibend und abbildend darstellbar ist. Sie wird vielmehr erst hergestellt im Reden und Erzählen, im Erinnern und Zusammenfügen. Wirklichkeit, sagt uns der Roman, entsteht im Kopf. Und der Kopf stellt sie ein ums andere Mal so einmalig her, dass sie vorhersehbar so wenig wie erinnert werden kann. Sie ist eine Möglichkeit von vielen und setzt sich zusammen als Spiel des Diffusen und Divergenten, das punktuell in eine Ordnung gerät, zum Beispiel im Erzählen, zum Beispiel durch LIteratur.
Wovon nun handelt der Folgeroman von „Sültzrather“, der vor 2 Jahren im Folio Verlag erschienen ist? Worum geht es in dem zweiten Buch der geplanten Trilogie, die sich um den fiktiven Schriftsteller Vitus Sültzrather aus dem fiktiven Ort Aibeln rankt?
Eng und raffiniert sind die beiden Teile im Grunde zu einer einzigen Sprechmaschinerie verknüpft, die, einmal angeworfen, unentwegt ins Laufen von Sprache und Sound gerät. Dabei nimmt sie alles mit, was ihr in die Quere kommt und was sie auch nur aus dem Augenwinkel heraus streift. Unentwegt verknüpfen sich auch Handlung und Form. Wir erkennen viele der Figuren wieder, von denen es im Roman wimmelt, wir erkennen Orte und Geschichten wieder, wir erkennen das Gerede wieder, das sich auf Stimmen und Hörensagen verteilt und die Erzählung weiterträgt, wir erkennen das Sinnieren und Spintisieren wieder, das vom Hundertsten ins Tausendste gerät, und wir erkennen die Gedankensprünge wieder, die von historischen Recherchen zu literarischen Zitaten kommen, von Fundquellen zu Skurrilitäten bis hin zu Träumen. Handelt nun davon der Roman? Oder doch vom Zuber, dem Bruder vom Sültzrather, der im Mai 1959 tot auf die Welt kommt und Kajetan heißen sollte? In einer Nacherzählung, auf die sich die Blaaser Kreszenz bezieht, ist er aber im September geboren. Und das, stellen wir uns vor, kann nur sein, wenn er nicht tot im 5. Monat, sondern im 9. auf die Welt kommt, nun aber als Fiktion und so eine Geschichte durch seinen Bruder, den Schriftsteller, erhält.
Ähnlich wie der Zuber geistern auch Geschichte und Vergangenheit durch den Roman, als Kippfiguren zwischen Fiktion und Realität, schleierhaft zwischen Fama, Fabel und Faktum. Man glaubt sie fast nicht, so gefiltert fällt sie durch ein vielfaches Erzählen. Aber plötzlich kippt sie in dieser irritierenden Unglaubhaftigkeit ins Unglaubliche und zeugt in der Erzählung, die von der Mutter über Max Vergeiner zu F., einer Figur ohne Leib und Körper, wandert, vom Mord im Thinnebach in den 30er Jahren, von den 3 Toten im Tal, sie zeugt von Folter im Gefängnis in den 60er Jahren, von zerbrochenen Menschen, die mühsam und müde zusammen gehalten werden über die Jahre, sie erzählt von Dingen, die passiert und Wort für Wort dokumentiert sind und deren Dokumentation einwandert in das Buch „Zuber“.
Dass es dennoch keinen Schlussstrich ziehen kann unter alles, um an einem Ende sagen zu können „so war es, das war die Geschichte“, ist sein literarisches Credo. Aber was wäre Literatur, wenn sie es, wider besseres Wissen, nicht dennoch immer wieder versuchte. Sie gäbe sich und das Erinnern auf. „Zuber“ ist ein kleines Glanzstück des Versuchs wider besseres Wissen.
Josef Oberhollenzer: Zuber oder Was werden wir uns zu erzählen haben. Roman, Reihe TransferBibliothek CLIII, Folio Verlag.
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