Sichtflug ohne Sicht
Anfang Oktober nehmen die Südtiroler Städtetheater nach der erzwungenen Corona-Pause ihren Betrieb wieder auf. Mit halbierten Sitzplätzen und einem Programm auf Sichtflug.
(sh) Die Bozner Carambolage lässt nur mehr 37 statt 99 Zuschauer pro Vorstellung in ihre Spielstätte in der Silbergasse ein, die Brixner Dekadenz nur mehr 45, das Meraner Theater in der Altstadt 46, nur das Stadttheater Bruneck schert aus und lässt ein volles Haus zu – allerdings herrscht für die gesamte Stückdauer Maskenpflicht und die Dauer der Aufführung ist auf 85 Minuten terminiert. Doch ob die halbierten Sitzplätze gefüllt werden können, ist keineswegs sicher, sagt die Präsidentin der Carambolage Maria Dietl. Die Leute seien vorsichtig.
Das reißt gewaltige Löcher in das eh schon knappe Budget der vier Städtetheater, die nur von der Politik ausgeglichen werden können. LR Philipp Achammer verspricht den unverschuldet Verschuldeten denn auch zusätzliche Hilfe: „Wir werden versuchen die geringeren Einnahmen auszugleichen.“
Anders wird es auch nicht gehen, wenn das Südtiroler Theaterleben die Corona-Krise halbwegs intakt überleben soll. Der Lockdown, der die Theater von einem Tag auf den anderen mit der Tatsache konfrontiert hat, dass es nicht mehr um das „wie“, sondern um das „überhaupt“ geht, hat sie solidarisch zusammengeschweißt. „Es war eine schwierige und unsichere Zeit. Der Austausch mit den KollegInnen der anderen Städtetheater hat gut getan und uns allen Halt gegeben. Wir sind zusammengewachsen.“, sagt die Leiterin der Dekadenz Brixen Anna Heiss.
Damit es überhaupt weitergehen kann, haben die Städtetheater in der erzwungenen Pause unterschiedliche Konzepte entwickelt.
Die Brixner Dekadenz weicht mit der Theatereigenproduktion in das neue Brixner Kulturzentrum Astra aus. Dort können, unter Einhaltung der Abstandsregelung, 85 Menschen die Aufführungen sehen. Das Gastspielprogramm hingegen bleibt im Keller. Die Carambolage bietet unter dem Motto „Let’s play safe“ ab Oktober manche Vorstellungen zweimal hintereinander an. Auch das Theater in der Altstadt Meran hat sich für die Variante Sicherheitsabstand entschieden. Bis die Sitzplätze eingenommen sind, herrscht Maskenpflicht. Alle vier Theater bitten um frühzeitige Reservierung und um rechtzeitiges Kommen, damit Menschenansammlungen vermieden werden, sowie das Benutzen der Desinfektionsmittel. Für kontinuierlichen Luftaustausch ist gesorgt.
Spannend ist das Jahr für den Städtetheaterverbund auch ohne Corona. Zwei der vier Theater stehen unter neuer Führung. Dem Meraner Theater in der Altstadt steht, nach dem traurigen Verlust von Gründer und künstlerischem Leiter Rudi Ladurner, die Schauspielerin Johanna Porcheddu vor. Klaus Gasperi hat im Stadttheater Bruneck das Zepter an seinen Sohn Jan Gasperi als Geschäftsführer und Christine Lasta als künstlerische Leiterin übergegeben. Die Dekadenz hat jüngst Norbert Dalsass zum neuen Präsidenten gekürt.
Die künstlerischen Programme sind den neuen Bedingungen angepasst, will heißen, es werden einige Produktionen nachgeholt, es dominieren Formate in kleinerer Besetzung, Mehrfachaufführungen oder die Transformation von Kindertheater in Hörspiele wie es das Meraner Theater in der Altstadt mit dem Märchen „Der selbstsüchtige Riese“ probiert.
Niemand weiß, was die nähere Zukunft bringt – für die Theater bedeutet das auf Sichtflug ohne Sicht zu steuern. Das Meraner Theater in der Altstadt etwa hat seine Planung momentan nur bis Dezember im Kasten.
Inhaltlich jedoch lassen die Städtetheater sich von den Abstandsregeln nicht einschränken. Mit den Eröffnungsproduktionen zeigen sich die vier Städtetheater gewohnt zeitgenössisch und sozialkritisch. Das Theater in der Altstadt beginnt mit „7 Minuten / Betriebsrat” von Stefano Massini, einer Koproduktion mit Phenomena unter der Regie von Hans Kieserer. Die Protagonistinnen bilden die Mitglieder des Betriebsrats einer französischen Textilfirma. Sie sind stellvertretend Zielscheibe in einer Welt, in der Profitdenken und Ausbeutung bagatellisiert werden. Im November folgt dann ein Klassiker aus Shakespeares Feder: Richard III in der Regie von Torsten Schilling.
Die Carambolage eröffnet mit „Drosseln (Swallow)“ der schottischen Dramatikerin Stef Smith. Es geht um zwei Frauen und einen Trans-Mann. Mit einem zärtlichen Blick auf die Figuren gelingt es der Autorin, die Widersprüche der modernen Gesellschaft zwischen Selbstoptimierung und Selbstzerstörung offenzulegen. Es spielen Katharina Gschnell, Viktoria Obermarzoner, Doris Pigneter und Daniel Clemente in einer Inszenierung von Joachim Gottfried Goller. Die Dekadenz eröffnet mit Philipp Löhles „Am Rand (ein Protokoll)”. Dietmar Gamper, Margot Mayrhofer, Frederick Redavid, Peter Schorn und Marlies Untersteiner spielen unter der Regie von Torsten Schilling einen komischen Krimi, wo ein einsames Wildschein zum dritten Weltkrieg führt oder auch nicht. Stadttheater Bruneck zeigt „Gift. Eine Ehegeschichte“ von Lot Vekemans, eine Koproduktion mit dem Theaterkahn/Dresdner Brettl rund um die Frage „Gibt es ein Leben nach dem gemeinsamen Leben?“. „Gift“ ist eines der berührendsten und erfolgreichsten Stücke der jüngeren Theatergeschichte. Es spielen Sarah Kattih und Thomas Dehler unter der Regie von Claus Tröger.
Das „überhaupt“ haben die Städtetheater im Griff, doch das „wie“ meldet sich mit Macht zurück. Jan Gasperi spricht von einem dramatischen Mangel an jungen Schauspieler*innen und Regisseur*nnen – „Es kommt nichts nach“ – und nennt auch gleich den Grund dafür: Die Schließung der Brunecker Schauspielschule.
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