Auf den Zahn gefühlt
Der Zahnarzt Herbert Campidell hat in einem Interview fragwürdige Thesen aufgestellt, die der freie Wissenschaftsjournalist Martin W. Angler nun in einem Faktencheck für die TAGESZEITUNG widerlegt.
von Martin W. Angler
Der Zahnarzt Herbert Campidell ist einer der Verfasser eines neulich veröffentlichten Brandbriefes mit dem Titel „Schluss mit der Panikmache”, in dem er mit vier weiteren besorgten Bürgern gegen die Südtiroler Anti-Covid-19-Maßnahmen wettert. In einem Interview mit TAGESZEITUNG spricht er über die Gefahr von Masken, negative Schwingungen, Homöopathie und Knoblauch. Kein Wunder also, dass manche seiner Aussagen unter anderem nach Polarisierung müffeln. Anstatt den Menschen „die Angst zu nehmen“, wie er postuliert, treiben solche Aussagen einen Keil in eine Gesellschaft, die immer mehr auf Krawall gebürstet und von Schwarz-Weiß-Denken geprägt ist.
Die Pandemie der medial auffälligen „Experten“ scheint hartnäckiger als die eigentliche Coronakrise. Ein Schritt-für-Schritt-Kommentar zu einigen fragwürdigen Aussagen.
Campidell sagt, es gebe kaum Neuinfektionen und dass diese symptomlos verlaufen. Masken seien besonders für Kinder schädlich.
Dass der Zahnarzt die Maßnahmen übertrieben findet, ist sein gutes Recht. Mein Metzger findet das übrigens auch. Virologen und Epidemiologen sind beide nicht. Die Aussage, dass es kaum Neuinfektionen gibt, ist erstens relativ und spiegelt zweitens nicht den Trend wider, der wieder leicht nach oben geht. Die Zahl der positiven Tests liegt vom 20. bis zum 26. August bei insgesamt 87, und 1.612 Menschen (Stand: 26. August) befinden sich in Quarantäne oder häuslicher Isolation. Woher der Zahnarzt die Aussage nimmt, dass Neuinfektionen symptomlos verlaufen, sagt er nicht. Es ist bekannt, dass einige Fälle asymptomatisch verlaufen, aber nicht pauschal symptomlos. Die Panikmache vor Schäden von Atemmasken ist im Regelfall unbegründet. Natürlich müssen sie hygienisch gehandhabt werden, Einwegmasken nach einmaligem Tragen entsorgt und wiederverwendbare regelmäßig gewaschen werden. Kohlendioxid-Moleküle sind allerdings so klein, dass sie problemlos durch die Poren von FFP3-Masken nach draußen schlüpfen und nicht für eine „Eigenvergiftung“ sorgen. Das zweite Argument der Maskengegner bezieht sich darauf, dass in feuchtem, warmen Klima auf den Masken Mikroorganismen wachsen können. Das kann stimmen, kommt aber auch auf Beschaffenheit und Material der Maske an. Auch wenn die WHO von einem Mund-Nasen-Schutz bei Kindern unter zwei Jahren, beim Sport und für Menschen mit Atembeschwerden abrät: Per se sind sie nicht schädlich, sofern sie geltende Qualitätsbestimmungen erfüllen.
Campidell sagt, er habe keine Angst vor SARS-CoV-2. Wer ein normales Immunsystem habe, müsse sich nicht fürchten. Angst erzeuge nur negative Schwingungen, was empfänglicher für Krankheiten mache.
Angst muss man auch nicht haben, aber da der Zahnart mit seinen 67 Jahren laut Robert-Koch-Institut zur Risikogruppe gehört, bei denen schwere Krankheitsverläufe gehäuft auftreten, würde er vielleicht gut daran tun, zumindest vorsichtig zu sein. Die Aussage, dass man keine Angst vor Corona haben braucht, wenn man ein gesundes Immunsystem hat, ist falsch. Das angeborene Immunsystem kann SARS-CoV-2 in manchen Fällen nicht abwehren, wie eine Studie kalifornischer Forscherim Fachjournal Sciencezeigt. Antiviral wirkende Proteine werden in diesen Fällen nur vermindert freigesetzt. In einer anderen Studiehaben Forscher 125 Covid-19-Patienten untersucht und festgestellt, dass Patienten unterschiedliche Immunprofile haben. Das heißt, im Fall einer Infektion reagiert ihr Immunsystem unterschiedlich auf Eindringlinge wie das Coronavirus. Die Forscher haben drei Profile entdeckt, bei denen weiße Blutzellen, die der Körper zur Abwehr bildet, unterschiedlich stark reagierten. In einem der Profile reagierten die Abwehrzellen nur schwach auf eine Infektion. Aussagen wie “negative Schwingungen”, die anfälliger für Krankheiten machen, gehören in die Fantasiewelt der Esoterik, aber nicht in den Mund eines Mediziners. Placebo- oder Nocebo-Effekt haben einen Platz in der Wissenschaft, unmessbare Energien und esoterische Schwingungen nicht.
Campidell über steigende Fallzahlen: „Es wird eine Panik erzeugt, die nicht gerechtfertigt ist. Was tun wir dann, wenn die Grippe kommt?“
Das Übliche. Wir behandeln symptomatisch. Und impfen vorab. Der zweite Satz scheint einen Vergleich von Covid-19 und Influenza zu implizieren. Dem öffentlichen Diskurs und einer Sensibilisierung und Rücksichtnahme hilft das nicht. Das Covid-19-gleich-Grippe-Argument ist in Fachkreisen längst aus der Welt geschafft: Die Erkrankungen unterscheiden sich in Erregerart, Inkubationszeit, manchen Symptomen wie Blutgerinnseln, verfügbaren Impfstoffen und Behandlung. Covid-19 ist nicht „einfach nur eine Grippe“, auch wenn sie manche Symptome teilen.
Campidell sagt, die Schulmedizin habe in Sachen Corona nichts zu bieten, außer vielleicht in Zukunft einen Impfstoff und ein Medikament.
Diese Aussage ist nur teilweise richtig. Ja, es gibt (noch) keine spezifischemedikamentöse Behandlung gegen Covid-19. Vielleicht wird es eine geben, vielleicht nicht. Impfstoffe werden aktuell mehrere getestet. Die “Schulmedizin” (der Begriff wurde übrigens aus Polemikzwecken von der Homöopathiefraktion eingeführt) hat dennoch einiges auf Lager. Etwa die symptomatische Behandlung. Das fängt bei fiebersenkenden Arzneien an und schließt den Einsatz von Beatmungsgeräten auf den Intensivstationen mit ein. In letzter Instanz, wenn gar nichts mehr hilft, ermöglicht die Schulmedizin sterbenden Patienten, schmerzfrei einzuschlafen anstatt elend zu ersticken. Wer jemals neben so einem Patienten stand, weiß, wovon ich rede.
Campidells Herbst-Prognose: „Wenn man die Zeitungen liest, hat man das Gefühl, dass eine Situation herbeigeredet wird, die darauf abzielt, die Wirtschaft zu schädigen, sie niederzufahren.“
Der erste Satz driftet in eine verschwörerische Richtung ab. So ein Statement gehört nicht veröffentlicht. Die Aussage erinnert an eine Theorie aus Verschwörungskreisen, die man seit den 1990er Jahren hört. Dort ist von einer “Neuen Weltordnung” die Rede, die das Finanzsystem zerstören, Bürgerrechte abschaffen und eine autoritäre Weltmacht errichten möchte. Wer denn nun gezielt die Wirtschaft schädigen möchte und warum, das sagt der Zahnarzt nicht. Solche Aussagen streuen Zweifel und verunsichern die Menschen, mehr nicht. Dass Meldungen kursieren, nach denen in Deutschland ein zweiter Lockdown “geplant” ist, stimmt. Wahr sind sie aber nicht. Sie kursieren bloß. Und zwar besonders auf verschwörungsaffinen Kanälen.
Campidell über den Hinweis, dies sei eine Fake-Nachricht: „Ich weiß es nicht. Was ist Fake und was ist wahr? Ist das, was ein Herr Conte oder ein Herr Kompatscher sagen, immer wahr?“
Nach der Klarstellung von Chefredakteur Oberhofer zieht der Zahnarzt die Aussage also erneut in Zweifel. Dabei gibt es erkennbare Social Media-Faktenchecks. Auf seiner eigenen Facebook-Seite teilt der Zahnarzt mehrere Hinweise, die von den Faktencheckern klar ersichtlich als falsch oder irreführend markiert wurden. Darunter befindet sich Material von Wolfgang Wodarg und des Kollektivs “Ärzte für Aufklärung”, die nachweislich irreführende Behauptungen in den Raum stellten, so wie jene, dass dieses Virus schon “ganz, ganz lange” existiere. Auf dem Feed befindet sich auch geteiltes Material des verschwörungsfreundlichen YouTube-Kanals “KenFM” und des Arztes und Esoterikers Rüdiger Dahlke, der unter anderem an die Gates-Verschwörung glaubt und die Schweineinfluenza für eine Erfindung der Pharmaindustrie hält. Um den Diskurs zu vollenden: Nein, niemand sagt immer die Wahrheit. Was Zahnärzte mit einschließt. Und nun? Wie bringt uns das weiter, außer, dass wieder Zweifel gesät werden und konspirative Feindbilder geschaffen? Solche Aussagen polarisieren und verbreitern nur die Kluft in der Gesellschaft zwischen “uns” und “denen”.
Campidell: „Ich bin überzeugt davon, dass man selbst die Abwehr stärken kann – etwa mit Knoblauch oder mit Homöopathie. Die Naturmedizin hat mehr zu bieten als die Schulmedizin …“
Man kann es nicht oft genug sagen: Homöopathie stärkt überhaupt nichts, außer die Konten der Hersteller und Verkäufer. Mit Naturmedizin hat Homöopathie nichts zu tun. Eine Wirkung homöopathischer Mittelchen tritt bestenfalls über den Placeboeffekt ein. Aber sogar der hat seine Grenzen. Verliert etwa jemand einen Finger, muss dann doch wieder die Schulmedizin ran und ein Chirurg die abhanden gekommene Gliedmaße, falls auffindbar und in noch rosigem Zustand, wieder annähen und anschließend Entzündungshemmer verabreichen. Der Turiner Placebo-Forscher Fabrizio Benedetti bezeichnet die Liste der Gebrechen, auf die der Placebo-Effekt nicht anschlägt, als fast endlos, darunter kardiovaskuläre Krankheiten und Osteoporose. Globuli sind in ihrer angeblich höchsten Wirkstufe, den “Hochpotenzen”, nichts als Zucker in Reinstform ohne jede nachweisbare Menge eines Wirkstoffes. Eine relevante physiologische Reaktion lösen diese Mittel nicht aus. Das unterscheidet sie klar von Natur- und Pflanzenheilkunde. Apropos Pflanzen: Knoblauch hält so sicher Vampire fern wie er SARS-CoV-2 abwehrt. Nämlich gar nicht. Im Gegensatz zu den Blutsaugern ist das Virus aber real. Auch wenn Knoblauch blutdrucksenkend und antibakteriell wirkt: Eine Wirkung auf das neuartige Coronavirus ist nicht belegt. Die Aussage, dass die Naturmedizin mehr zu bieten habe als die Schulmedizin ist eine Verallgemeinerung, die am ehesten auf Polarisierung abzielt. Beide haben ihre Daseinsberechtigung und Einsatzmöglichkeiten. Homöpathie nicht.
Campidell sagt, dass aktuell über 160 Impfstoffe getestet werden. Er fragt: „Welchen Impfstoff nehmen wir dann?“
Die kurze Antwort: Wir nehmen den Impfstoff, der zugelassen wird, ganz einfach. Es werden bei weitem nicht sämtliche Impfstoffe alle Phasen der klinischen Studien überstehen. Von den derzeit in Entwicklung befindlichen 165 Impfstoffen werden gerade 32 an Menschen getestet. Und keine Sorge, keiner der Versuche verletzt den Nürnberger Kodex. Im Brandbrief stand ursprünglich, dass einiges an den Impfstoffen dem Kodex widersprechen würde. Zur Erinnerung: Der Nürnberger Kodex wurde anlässlich der im Nationalsozialismus begangenen medizinischen Verbrechen an der Menschlichkeit ins Leben gerufen. Darunter befinden sich Zwangssterilisationen oder Mengeles narkosefreie Operationen an Zwillingen, um deren Schmerzempfindlichkeit zu testen. Die SARS-CoV-2-Impfstoffsuche mit dem Kodex in Verbindung zu bringen ist nicht nur geschmacklos, sondern falsch.
Campidell bejaht die Existenz des Virus, betont aber, dass er keine Angst davor habe.
Schön, dass Herr Campidell das Virus anerkennt. In seinem Facebook-Feed findet sich immerhin ein Link auf ein mittlerweile gelöschtes Video von Wolfgang Wodarg, in dem davon die Rede ist, die Corona-Pandemie sei nur ein Hirngespinst. Gut für den Zahnarzt, dass er keine Angst hat. Aber er ist trotz medizinischer Ausbildung eben keine Fachperson in Sachen Pandemie und kann deshalb darüber auch keine qualifizierten Ratschläge erteilen. Trotzdem haftet ihm, genau wie seinen Mitautoren, ein Hauch von Expertise an. Im vorliegenden Fall zu Unrecht. Einfluss haben seine Aussagen trotz oder gerade wegen dieses falschen Autoritätsargumentes. Vielleicht sollten wir größere Angst vor dem Effekt haben, den Menschen auslösen, die einen Anspruch auf solch unbegründete Autorität erheben. Nicht nur in dieser Pandemie. Sondern grundsätzlich. Gestänkere dieser Art entzweit eine Gesellschaft, die gerade alle Mühe hat, eine Brücke zwischen hirnverbrannten Verschwörungsideologien und gesundem Menschenverstand zu schlagen. Warum also Brandbriefe und solche Interviews? Manche Experten fallen wohl selbst auf abstruse Verschwörungstheorien herein, andere versuchen sich dadurch zu bereichern, manche wollen einfach motzen. Und wieder andere machen Politik damit. Ein Zahnarzt ist (in aller Regel) kein Virologe und auch kein Epidemiologe. Lassen Sie uns aufhören, den Bock zum Gärtner zu machen und jeden ausformulierten Unsinn für bare Münze zu nehmen. Oder würden Sie mit einer gebrochenen Nase zur Gynäkologin gehen, bloß weil die auch Medizin studiert hat?
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Kommentare (11)
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rumer
Mäßiger Artikel… so richtig widerlegen tut er die Aussagen von Campidell nicht, teilweise gibt er ihm sogar recht. Und sonst hat der Hr. Angler halt eine andere Meinung. Passt scho!
insider84
genau, mehr als eine Meinung ist es nicht. und so was nennt sich Wissenschaftsjournalist, gut, kann sich jeder Journalist so nennen wenn er will. Da ist aber schon gar nichts wissenschaftlich an diesem Artikel…
2xnachgedacht
jedem seine meinung…wobei die vom herrn angler auch nicht das eigelb ist… bezüglich homöpathie und placebo…zumindest kann sich da ein eventueller (nicht bewiesen) placeboeffekt einstellen- bei medikamenten wird der von vornherein aufgrund der ganzen giftstoffe auf nahezu null gedrückt, weil wirkliche heilungseffekte haben medikamente meist auch nicht…=symptombehandlung.